Sicherlich gibt es schönere Fußwege von Archánes aus nach Houdétsi als ausgerechnet über die Hauptstraße. Doch in Ermangelung besserer Ortskenntnisse wagten wir keine Querfeldein-Märsche. Außerdem sah es nicht so aus, als ob das Wetter über den Tag hin beständig bliebe. Aufziehende Wolken sorgten zwar für angenehme Temperaturen, Regen schien jedoch auch im Bereich des Möglichen. ![]() ![]() Wieder faszinierte uns die herbstliche Weinlandschaft hinter dem (südlichen) Ortsausgang von Archánes. Der Geschmack der fruchtigen Reben, denen wir am Vorabend ausgiebig gefrönt hatten, saß noch in unseren Gaumen. Bald passierten wir den nun wohl bekannten Abzweig zum Joúchtas. Von der Straße aus ist die kleine Bergkette sehr deutlich zu sehen, und endlich konnten wir auch das Profil des "schlafenden Zeus" erkennen: ![]() Rechts sieht man die Stirn; über die Vertiefung der Nasenwurzel steigt man bergan zur Nasenspitze
mit der Gipfelkirche, die wir besichtigt hatten. Links schließen sich Mund- und Kinnpartie an. Hinter dem südlichen Ende des Joúchtas breitet sich eine abwechslungsreiche, hügelige Landschaft aus. Zwei markante Kegel ragen – gleich nebeneinander – in die Höhe. Ein Adler kreiste dort, die anderen waren eher an der Westseite des Zeusberges zu finden, wo sie von Menschen relativ ungestört nisten und auf Nahrung hoffen können. ![]() Das archäologische Gelände der minoischen Villa von Vathýpetro liegt exponiert etwas abseits der Straße. Ein Weg führt dorthin, das Tor war leider verschlossen. Es war Montag, und dann ist hier, wie an vielen antiken Ausgrabungsstätten, Ruhetag. Viel konnten wir von außen nicht erkennen. Innen soll man eine Wein- und Olivenpresse aus jener Zeit besichtigen können. Langsam zogen immer dunklere Wolken auf. Einen Regenschutz hatten wir nicht dabei. Egal. Wir kehrten trotzdem nicht um, sondern gingen weiter zu unserem heutigen Ziel, dem Dorf Houdétsi, wo wir uns zumindest ein wenig umsehen und später auch einkehren wollten. Etwa ein bis zwei Kilometer weiter erreichten wir das Dörfchen „Vathýpetro“ mit der Taverne „To spíti tou petráki“ („Das Haus des Steinchens“) und zwei Kirchen. Die Taverne, in der wir gerne eine Kleinigkeit gegessen hätten, war leider geschlossen, die kleinere der beiden Kirchen jedoch geöffnet. ![]() Diese Kapelle mit ihrem blau gestrichenen Témplon (Altarwand) und den sehr gepflegten Ikonen ist ein kleines Schmuckstück.
In der Außenanlage der Kapelle laden Bänke zum Verweilen ein. Ein Farbenspiel von Sonne und Wolken spiegelte sich in den Kiefern und Laubbäumen des Kirchgartens wieder. Sehr lauschig war es hier und mittlerweile ganz schön schattig, weil zu den Wolken auch noch ein kühler Wind aufkam. Deshalb setzten wir schon bald unseren Weg fort. Die Straße verbreiterte sich und beschrieb eine lang gezogene Kurve, der wir auf jeden Fall folgen mussten. Der Weg erschien uns weiter, als er auf der Karte ausgesehen hatte. Zum Glück war die Piste kaum befahren, so dass wir uns nicht mit nervenaufreibendem Straßenverkehr auseinander setzen mussten. Im Gegenteil, es war angenehm ruhig. Ein älterer Kreter kam uns entgegen, der einzige Fußgänger, dem wir bisher begegnet waren. Offensichtlich freute auch er sich über einen kurzen Schnack. Die üblichen Floskeln nach dem Woher und Wohin wurden ausgetauscht. Er war per Anhalter unterwegs und Germanía kannte er nur aus seinen Träumen. Nach Houdétsi sei es nicht mehr weit, meinte er, noch etwa einen Kilometer. Nach weiteren paar hundert Metern saß da mutterseelenallein ein Verkäufer in einem Verschlag am Straßenrand, der Früchte, Knoblauch und ein paar Gläser Honig im Angebot hatte. Auch hier ein kurzer Austausch, dann überließen wir ihn wieder seiner Radioübertragung. Endlich, oben auf dem Scheitelpunkt der Kurve, konnten wir die ersten Häuser von Houdétsi erkennen. Es war ein wenig enttäuschend. Nicht dass wir große Erwartungen gehegt hätten, denn wir waren eigentlich eher wegen der Wanderung an sich unterwegs. Doch die Häuser da vermittelten den Eindruck eines gottverlassenen Weilers an einem Highway. Beim Näherkommen erkannten wir jedoch, dass das eigentliche Dorf sich an einen Hügel bergab schmiegt, den man von der Hauptstraße aus nicht sehen kann. Was in Archánes PKWs und frisierte Mopeds sind, sind in Houdétsi dröhnende LKWs, beladen mit Baumaterial, und anderes schweres Gerät aus ortsansässigen Firmen. Doch die Lautstärke und Dichte wie in Archánes erreicht der Verkehr hier bei weitem nicht. Der Ort wirkte auf uns klein, mit neueren Häusern, nichts besonderes. FALSCH! Bald zeigt ein Schild nach links zu einem „Traditional House“, dem wir in eine schmale Gasse hinein folgten. Hier betraten wir plötzlich und unvermittelt das alte Kreta mit den schmalen, verwinkelten Gassen eines Ruinendorfes, das fast zur Gänze so geblieben ist, wie es war, unrenoviert und jetzt am Verfallen. ![]() ![]() ![]() ![]()
![]() Blicke durch offene Türen auf zum Teil eingefallene Mauern zeigen, wie die Kreter früher gelebt haben: Dicht an dicht, in verwinkelten Zimmern, die miteinander verbunden waren, in denen sie selbst mit ihren Familien und dem Vieh lebten. Alles eng und gedrungen, gut geschützt gegen extreme Wetterlagen und Feinde. Ein Mann mit einem langen Brett auf der Schulter trat mir in den Weg, ein Blick, ein Gruß, ein Lachen, wir waren im Gespräch. Er bat uns herein in eine gut erhaltene Ruine, die jetzt doch renoviert wird, wollte uns die alten Hinterlassenschaften zeigen. Der Boden war noch wie früher ohne Betonplatte. Ein Kamin in einem fensterlosen Raum hat damals für ausreichend Wärme im Winter gesorgt, groß genug für ein ordentliches Holzfeuer. In einer dunklen Ecke eine Getreidemühle. Ein gemauertes Viereck mit steinernem Ausguss, in dem früher die Trauben getreten wurden. Der Raum für das Vieh, in dem sich der Geruch gehalten hat. Ein Kellner aus einem der Restaurants in Archánes bog plötzlich um die Ecke - beiderseitiges Erkennen. Auch er half hier mit. Mittlerweile hatte auch ein Opa die Szene betreten. Neugierig fragte er, woher wir kamen und wohin wir unterwegs wären, um uns anschließend mitzuteilen, dass jeder der beiden Jungs hier ein „kaló paidí“ (gutes Kind) sei. Man zeigte uns, in welche Richtung die nächste Taverne lag, denn mittlerweile hatten wir riesigen Hunger. Wir knipsten uns durch das Ruinendorf in Richtung Platía, unserem Ziel. Es freut mich immer wieder, auf diese alten Relikte zu stoßen. Diese Häuser erzählen Geschichten, stacheln die Phantasie an, verströmen den Zauber vergangener Tage, vergangener Zeiten. Erinnerungsfetzen an die mir bekannteren Dörfer der Messará, wie Pitsídia und Kamilári, vor fünfzehn Jahren und an die Atmosphäre zwischen den Bruchsteinmauern. Am Rand der Ruinensiedlung von Houdétsi sind Häuser renoviert worden. Vielleicht möchte niemand mehr in dieser Enge wohnen. Heute baut man größer und üppiger, mit genügend Platz zum Nachbarn, wenn das Grundstück die entsprechende Größe besitzt. ![]() Mittlerweile hatte sich ein ordentliches Hungergefühl in unseren Mägen breit gemacht. Das erste Lokal, das wir sichteten, war ein geöffnetes Mesedopoleío, frei übersetzt ein „Vorspeisengeschäft“. Gerade zur rechten Zeit betraten wir das Lokal, denn es hatte zu regnen begonnen. Ein paar Griechen erwiderten unseren Gruß, die deutsche Touristen-Familie, die gerade ihr Essen in sich hineinschaufelte, bekam die Zähne dazu nicht auseinander. Nachdem wir uns innen einmal umgeschaut und die Wirtsleute begrüßt hatten, richteten wir uns auf der überdachten Terrasse ein. Das Lokal trägt auf dem Schild den Untertitel "Die zwei Agápi“, Oma und Enkelin heißen so. Doch ich glaube, dass María, die Tochter und Mutter in der Generation dazwischen das heimliche Regiment führt. Wir ließen uns beraten. María hatte am Morgen frische Linsensuppe gekocht. Die kam jetzt gerade richtig. Sie servierte einen Bauernsalat, der seines gleichen sucht. So was von frischen, guten Tomaten. Dazu eine riesige Portion würziger und cremiger Ziegenkäse. Ein wahrer Genuss! Dazu gab es Omelett mit Kartoffeln und Käse. Richtig pappsatt waren wir danach. Wein hatten wir zum Essen getrunken. Doch nun stellte María die Rakikaraffe auf den Tisch und gesellte sich zu uns. Den Raki möge sie gerne, verriet sie uns. Jammas! María ist eine lustige und warmherzige Frau und ihr Mann ein lustiger und netter Mensch, der uns mit einer Schale kleiner, süßer, kernloser Trauben verwöhnte. Ob wir wegen Ross Daly gekommen seien? Nein, eigentlich nicht. Ross Daly hätte ich eher in Archánes vermutet. Hier, in diesem abgelegenen Dorf, befindet sich jedoch das Instrumentenmuseum und die Musikwerkstatt, in der schon viele berühmte und weniger berühmte Musiker aus aller Welt geübt und gespielt haben. Und genau gegenüber davon saßen wir. Die Eingangstür war verschlossen, nur ein paar Hunde spielten im Garten. Er sei wahrscheinlich nicht da, wohl wieder irgendwo in der Welt unterwegs, meinte María. Ross Daly trafen wir am Ende unseres Urlaubs im Flughafen von Iráklion, wo er in aller Herrgottsfrüh mit wehendem weißen Haar durch die Abflughalle huschte und sich schließlich mit einigen jungen Damen unterhielt. Wahrgenommen von den Kretern, aber unbehelligt, so groß ist der Respekt, den man ihm zollt. Doch zurück nach Houdétsi. Marías Tochter, Agápi, gesellte sich schließlich zu uns, eine sehr nette junge Frau. Wir unterhielten uns über die Lebensumstände in unseren Ländern und über die Gemeinsamkeiten, die sich durch das Vereinte Europa eingestellt haben. Positives wie Negatives kam zur Sprache. Auch Persönliches. Sorgen wurden geteilt. Frauengespräche, in die sich Marías Mann nicht einmischte. Mit gekräuselten Lachfalten um die Augen und tiefer Verbeugung, mit der er an jedem Königshof sofort eine Stelle bekommen hätte, kredenzte er uns noch allerlei Köstlichkeiten zum Schnaps. Eine Quitte wurde geschält, dann ein Apfel. Selbst hergestellte Pittákia in Honig verwöhnten unsere Gaumen. Beim Rakí-Trinken ist es nicht verkehrt, wenn man immer ein wenig etwas zu beißen dazu hat. Rakí oder sonstiger Schnaps ist eigentlich nicht so meins, doch nach einer Weile war die Karaffe leer, den Alkohol merkte ich überhaupt nicht im Schädel. Echt leckeres Zeug. Später fragte María, wie wir eigentlich zurück kämen. Ich hatte an ein Taxi gedacht, doch María meinte, sie würde uns fahren. Am frühen Abend bretterten wir also zusammen mit der jungen Agápi über den Highway zurück nach Archánes. Die angebotene Bezahlung schlug María in den Wind, doch eine Einladung in eines der vielen Cafés nahm sie zu unserer Freude gerne an. Wir stiegen also die eiserne Wendeltreppe zu dem etwas zurück gesetzten Lokal, am unteren Rand der Platía, empor. In gepflegtem Ambiente mit dezenter, englischer Hintergrundmusik und hervorragendem Service sitzt es sich hier oben ausgesprochen gut. Leckere Fruchtsäfte wurden serviert. Drei Frauen, top durchgestylt, mit coolen Sonnenbrillen, betraten die Szene und nahmen am Nachbartisch Platz. María war mittlerweile sehr still und nachdenklich geworden. Unser Beisammensein neigte sich dem Ende zu. Ich lud sie ein, uns doch in den nächsten zwei Wochen in der Messará zu besuchen. Telefonnummern wurden ausgetauscht. Zum Abschied brachten wir die beiden zu ihrem Auto. Ob sie uns tatsächlich besuchen würden? Den restlichen Abend verbrachten wir wegen des ohrenbetäubenden Verkehrslärms wieder in unserer Pension und ließen den wunderschönen Tag noch einmal Revue passieren. |