Lieber zu Fuß
(2005)



Kreta hat sich in den letzten 20 Jahren sehr verändert! Sichtbar auch an den verbreiterten, asphaltierten Straßen, die damals noch Schotterpisten waren. Eine solche ist zum Beispiel die Straße von Pitsídia nach Kommós oder der Weg von Kamilári nach Kalamáki.

Jedesmal bekam man einen Hustenanfall und versuchte sich irgendwie wegzudrehen, damit man möglichst wenig Staub schlucken musste, wenn mal ein Auto vorbeifuhr. War nicht so toll, gehörte aber mit dazu.
Aspaltierte Straßen bringen heute Touristen in entlegene Gegenden. Wenn es sein muss, sogar sehr viele Touristen in sehr vielen Autos. Aus ist`s mit der Gemütlichkeit! Nicht dass ich irgendjemandem Vorschriften machen möchte, wie er sich fortbewegen soll, doch ich gebe zu bedenken, dass es ziemlich schwierig sein dürfte, aus einem fahrenden Auto heraus die Landschaft aufzunehmen.
Staubstraße zwischen Kalamáki und Kamilári, Sommer 1992

Wie will man den würzigen Duft wahrnehmen und wie eine kühle Brise in brennend heißem Sommer? Wie soll man mit den Menschen in Kontakt treten, wenn man vorbeibrettert? Bleibt vielleicht ein kurzes Kopfnicken, wenn überhaupt.
Wie kann man das Licht- und Schattenspiel beobachten, dass vorüberziehende Wolken auf einen nachmittäglich gleißenden Berg werfen? Hinter der nächsten Kurve ist er bereits aus dem Blickfeld verschwunden - und vergessen.

Fußweg abseits der Straße, zwischen Kamilári und Pitsídia

Und wie kann man den Flügelschlag eines Bussards hören, oder sogar die Federn seiner Schwingen knapp über der eigenen Kopfhaut spüren, wenn er im Tiefflug, ganz geräuschlos von hinten heranschwebt? Wie könnte man ihm Aug` in Aug` gegenüber stehen, so wie es mir kürzlich bei einem morgendlichen Spaziergang in den Olivenfeldern geschehen ist?
Die eiligen Vorbeiraser der heutigen Zeit machen einem einsamen Fußwanderer das Leben wesentlich schwerer als die wenigen Pickups auf den staubigen Sandstraßen von damals. Ein Paradebeispiel ist die Strecke zwischen Mátala und Pitsídia. Als Wanderer spielt man mit seinem Leben, wenn man nicht höllisch auf den Verkehr Acht gibt.
Vor 20 Jahren gab es nicht so viele Autos und Motorräder. Als Fußgänger war man keine Rarität, so wie ich mir heute oft vorkomme. Ich habe den Eindruck, dass das Leben insgesamt gemütlicher war, nicht nur der Straßenverkehr. Und nicht nur auf Kreta.
Betonskelette von Kalamáki, 1992

Einige Dörfer haben sich enorm verwandelt. In Vóri kann ich das Haus einfach nicht mehr finden, in dem wir gewohnt haben. Die Peripherie hat sich vollkommen verändert, das Dorf ist wesentlich größer geworden.
Andere Ortschaften erkenne ich sofort wieder, und das alte Gefühl stellt sich ein, eine Vertrautheit, wie man sie zu Orten entwickelt, an denen man sehr viel erlebt hat. Weniger Äußerlichkeiten, wie die massierte und nervenaufreibende Berieselung, Beschallung und Reizüberflutung heutiger Tage.

Pitsídia, 1991

Pitsídia, 2005

Eher interkulturelle Erlebnisse, die nicht immer einfach zu „verdauen“ waren. Viele warmherzige Begegnungen, meist spontan und unerwartet. Vielleicht deshalb möglich und wahrgenommen, weil in den Dörfern im Winter sonst überhaupt nichts los war, nach heutigen Maßstäben gemessen. Und wegen der geringeren Mobilität.
Doch vielleicht braucht es manchmal gerade dieses Maß an Langeweile, ohne Ablenkung, ein Innehalten, um andere Dinge zu erleben, um sensibel zu werden für zwischenmenschliche Schwingungen, bei denen es keiner großen Worte und Gesten bedarf.
Für mich ergaben sich dadurch Beziehungen zu Menschen, die bis heute Bestand haben und sich im Laufe der Zeit während anderer längerer Aufenthalte auf der Insel gefestigt haben.
Manchmal habe ich das Gefühl, die Zeit ist in den Dörfern stehen geblieben. Obwohl meine Bekannten und Freunde älter geworden sind, haben sie sich mir gegenüber nicht verändert. Meine Besuche sind meist spontan, ohne Ankündigung. Sie geben mir stets das Gefühl, nur von einem kleinen Zwischenaufenthalt wieder zurück zu sein, als ob ich mal eben in Míres, der nächsten Kleinstadt, ein paar Besorgungen gemacht hätte, als ob ich nie mehrere tausend Kilometer und viele Monate lang weg gewesen wäre. Vielleicht könnte man dieses Gefühl mit „innerer Heimat“ beschreiben. Für mich bedeutet es, Anker geworfen zu haben.
Ich habe erlebt, wie Kinder auf Kreta groß geworden sind, geheiratet und ihr Geschäft aufgebaut haben, langsam älter werden, selbst Kinder haben. Mir ist bewusst geworden, wie sehr ich mit der Insel verwurzelt bin.
Natürlich würde ich gerne auf Kreta leben, dieses Gefühl ausleben. Obwohl ich es nicht tue, bleibt diese innere Beziehung bestehen, auch auf die Entfernung. Selbst zu Menschen auf Kreta, die längst gestorben sind. Es waren Urtypen, archetypische Vertreter unserer Geschichte. Daher unsterblich und für mich immer existent.

Gedanklicher Ausflug