Fahrt entlang der Südwestküste Kretas
Von Paleóchora nach Agia Rouméli
(September 2004)



Nach erholsamem Schlaf in einem Hotel am Oststrand Paleóchoras eröffnet ein üppiges Frühstück auf halbem Weg zum kleinen Fähranleger meinen Tag auf wohltuende Weise.

Voller Freude auf die Fahrt bin ich schon viel zu früh aufgestanden. So erstehe ich mein Fährenticket und schaue mir noch ein wenig das Treiben am Hafen an, wo ein paar Fischer ihren Fang anbieten. Es verspricht, ein heißer Tag zu werden.
Die Fähre „Samariá“ verfügt über drei Decks für den Publikumsverkehr: Das Autodeck bietet genügend Platz, um auch sperrige Gepäckstücke wie Koffer und Rucksäcke seitlich zu deponieren, so dass man die anderen Fahrgäste auf den oberen Decks nicht behindert. Mittel- und Sonnendeck sind mit Sitzbänken ausreichend bestückt. Außerdem gibt es eine kleine Cafeteria, die gerade geöffnet wird. Pünktlich um 9.45 Uhr legen wir ab.
Bis zur ersten Landzunge erstreckt sich eine Kette lieblicher Hügel, die sanft ins Meer abgleitet, einer Krokodilschnauze gleich, wachsam über der Wasseroberfläche dösend. Die Bergwelt der Lefka Ori lässt sich nur schemenhaft im Gegenlicht erahnen.


Doch schon bald tritt nacktes Gestein zutage, das sich im klaren Wasser widerspiegelt. Die Kamera schussbereit, verfolge ich unsere Route auf meiner präparierten Karte, die ich aus vielen detallierten Einzelabschnitten zusammengeklebt habe. Ich kann mich nicht satt sehen an den Kontrasten von glatter, kaum gekräuselter Meeresoberfläche und steil abfallenden Felsen.

Soúgia, leicht verdeckt hinter Bäumen, ein vorgelagerter Sandstrand, gewelltes Hinterland. Von hier aus könnte man mit einem Bus nach Omalós fahren.                        
Hinter Soúgia ändert sich das Gesicht der Landschaft vorübergehend. Grün bewachsene, überdimensionierte Stümpfe, als ob hier vor Urzeiten Baumriesen gestanden hätten, die ein Titan mit sicherem Hieb glatt gefällt hat.

Daneben bizarre Figuren, Augenhöhlen in zerfurchten Gesichtern, dämonenhafte Fratzen noch aus den Zeiten vor unserer bewusst erinnerbaren Geschichte.                  
Langsam gewinnen die Berge an Höhe, durch tiefe Täler miteinander verbunden, die sich in einigen hunderttausend Jahren in bizarre Schluchten verwandelt haben werden, Täler, die heute noch sanft ins Meer gleiten.

Endlich die tiefe Einkerbung, eine bereits vernarbte Wunde, die weit ausladende, charakteristische Linkskurve, die selbst auf Satellitenbildern, vom Weltall aus gesehen, eindeutig identifizierbar ist; es ist die Einkerbung der Samariáschlucht mit den wenigen Häusern von Agia Rouméli am Meer.


*****


Ähnlich wie auf Santorin beschäftigt mich auch hier die Frage, wodurch dieses intensive Wohlbefinden beim Betrachten der Landschaft ausgelöst wird.
Vielleicht sind es die klaren Grenzen zweier gegensätzlicher Elemente. Kein Zweifel, weiches Wasser trifft auf harten Stein. Und obwohl man sich selbst in Bewegung befindet, und sei es nur auf einer Schiffspassage, so kann man seine eigene Position doch sehr gut bestimmen.
Möglicherweise ist es die frische, kühle, glatte Reinheit des Meereswassers, das auf uraltes Gestein trifft, welches sich über Jahrmillionen bis zur heutigen Gestalt entwickelt hat, gewachsen ist. Unbewegtes Wasser als Spiegel für das zerfurchte Antlitz der bewegten Erdgeschichte.
Und dabei ist es das Wasser, das während eines jeden Wimpernschlages eine neue Daseinsform gebiert. Und es ist das Gestein, das – aus der Perspektive eines Menschenlebens betrachtet – unbewegt „wie ein Fels in der Brandung“ dort steht, scheinbar unverrückbar, unzerstörbar, zuverlässig. Nur ein scheinbarer Widerspruch, denn beide Elemente durchdringen sich. Fels wächst aus der unterseeischen Tiefe, um sich schließlich verzerrt im tiefen Blau der Meeresoberfläche widerzuspiegeln.
Vermutlich hat es auch etwas damit zu tun, dass man angesichts der Großartigkeit der offen erkennbaren Geschichte der Erde und damit auch unserer eigenen Evolutionsgeschichte ins Grübeln kommt.
Mir wird in solchen Augenblicken immer bewusst, wie einfach das Leben IST, anspruchslos, klar, schön, schnörkellos. Balsam für die gestresste Seele der heutigen Zeit, die den Anforderungen des Alltags gewachsen sein muss, weit entfernt von solcher Erhabenheit. Es tut gut, wenn es gelingt, ein kleines Stück dieses inneren Bildes mitzunehmen ... um auf der morgendlichen Fahrt zur Arbeit genau dieses Bild heraufzubeschwören, sich zurücklehnend, lächelnd und wissend.



Die holozäne Wasserstandsmarke