Kédros
(Oktober 2003)



Schon immer einmal wollte ich nach Kría Vrísi. Dieses kleine Dorf am Fuße des Kédros-Gebirges, das man linkerhand sieht, wenn man mit dem Bus von Réthimnon nach Agia Galíni fährt. Ich weiß nicht genau, warum, aber es ist gerade die Kahlheit der Berge Kretas, die auf mich einen so großen Reiz ausübt. Vielleicht wegen der klaren und einfachen Aussagen, sozusagen der Präsentation der nackten Tatsachen, die man sich innerlich dann selbst ausschmücken kann.

Kría Vrísi, am Fuße des Kédros

In diesem Oktober sollte einer meiner Träume wahr werden. Da mein lieber Wandergefährte und ich weder über ein Auto verfügen noch uns in einem der umliegenden Orte gesondert für die Kédros-Wanderung einquartieren wollen, beschließen wir, die ersten Busse zu nehmen, die uns nach Kría Vrísi, dem Ausgangspunkt unserer Wanderung, bringen.

Gestartet wird also noch in frühmorgendlicher Dunkelheit von der Hauptstraße zwischen Mátala und Míres, weniger als einen Kilometer von Sívas entfernt. Der 7-Uhr-Bus ab Mátala kommt pünktlich und fährt uns – mit Umweg über Pómbia (wegen der Schulkinder) – in kurzer Zeit nach Míres. Das Städtchen hat gerade herzhaft gegähnt und macht sich nun langsam daran, den neuen Tag zu beginnen. In der frisch verlegten Bushaltestelle (nicht mehr bei Antonio, sondern ein paar Meter daneben, in einem Ecklokal) bekommen wir zumindest schon mal einen ersten Kaffee, und haben noch ein wenig Zeit, das heimelige Gefühl auszukosten, zwischen all den gerade aufgewachten Kretern und der herzlichen Kaffee-Verkäuferin in diesem Lokal, so angenehm einhüllend und gemütlich warm.

Schon sehr bald fährt unser Bus nach Agia Galíni ab. Die Fahrt nehme ich nur schemenhaft wahr. Bin in Gedanken schon bei der Wanderung. Was wohl auf uns zukommt? Wird der Weg steil sein? Und vor allem: Werden dort riesige Ungeheuer von Hütehunden ihr Unwesen treiben?

Zuvor jedoch sollten wir uns unbedingt stärken, was dann auch im frühmorgendlich erhellten Agia Galíni geschieht. Fast keine Touristen unterwegs. Entweder schlafen sie noch alle oder es gibt im Ort um diese Jahreszeit nur noch ganz wenige. Ich persönlich komme immer wieder gerne hierher, auf einen Abstecher. Und obwohl ich mich liebend gern in den kleinen Dörfchen abseits des großen Tourismus herumtreibe, so genieße ich doch den gelegentlichen Ausflug in dieses Touristenörtchen. Immerhin war es mein erster Landeort auf Kreta, im November 1986.

In späteren Jahren genoss ich die Jazz-in-Jazz-Bar, in die mich ein Freund mitschleppte. Mit ganz viel Flair, sie hätte auch genauso gut in New Orleans stehen können (zumindest, was meine Vorstellung von N.O. angeht). Später ist der Besitzer mitsamt seiner Bar leider nach Athen umgezogen.

Im Oktober letzten Jahres hatte ich in meinem Hotel in Sívas die aus Nordgriechenland spontan für ein Jahr hierher versetzte und „hochbegeisterte“ Dorfschullehrerin kennen gelernt und eine deutsche Frau, die mehrere Jahre auf einer anderen Insel gelebt hatte und jetzt irgendwie unterwegs war, mit eigenem Auto. Spontan entschlossen wir uns, einen Nachmittag in Agia Galini zu verbringen. Es zog uns damals zum Strand, in eine der Bars, in denen man in bequemen Stühlen bei mehreren leckeren Getränken und leiser Musik abhängen konnte. Entspannte Gespräche, die drei Frauen irgendwo auf der Welt hätten führen können. Später präsentierte man uns noch einen wunderschön roten Sonnenuntergang, von der Hafenmauer aus gesehen.

So viele Erinnerungen an Agia Galíni, obwohl ich immer nur sporadisch da war. Und nun noch um eine reicher, da Zwischenstation mit kräftigendem Frühstück und Vorfreude auf den Berg.

Der Bus bis Néa Kría Vrísi, an der Hauptstraße nach Réthimnon, braucht nur wenige Minuten. Er hält kurz vor dem örtlichen Kafeníon, das uns später noch sehr gelegen kommt, wegen der kühlen Getränke. Die Angst vor möglichen Hütehunden auf dem Kédros wird von der Kafeníon-Wirtin zerstreut. Man wusste ja nicht, ob nicht doch ein paar gut bewachte Schafherden da oben in the middle of nowhere weiden. Sie warnt uns allerdings vor der Möglichkeit plötzlich heraufziehenden Nebels. Der Weg führe zuerst in Richtung des Nachbardorfs Kría Vrísi, und dann, vor dem ersten Haus, sollen wir links abbiegen, den Feldweg hoch.

So beginnt das Abenteuer Kédros. Der Blick von weitem auf den Berg war schon sehr anziehend, für mich nicht einschätzbar, wo genau jetzt der Aufstieg sei und wie steil sich das ganze darstellen würde. Bin schließlich keine erfahrene Bergsteigerin. So aus der Nähe betrachtet erscheint er mir für meine Verhältnisse dann doch recht anspruchsvoll. Eine ältere Frau, die links in einem Garten arbeitet, erwidert meinen Gruß nicht, sondern wendet sich ab. Noch Ressentiments wegen des „Brennenden Kédros“? Ein ganz schwieriges Kapitel unserer Geschichte, mit dem ich bis heute noch nicht umgehen kann. Solche Begegnungen nehmen mich innerlich immer mit. Auch wieder ein kurzer Gedankenblitz an Anógia und Kalávrita, wo ich sehr deutlich gezeigt bekam, was unsere Vorfahren angerichtet haben.

Das „alte“, größere Kría Vrísi scheint ein Geisterdorf zu sein. Die Häuser zwar in gutem Zustand, jedoch ist keine Menschenseele sichtbar. Möglicherweise sind die auch alle zur Arbeit, der Rest vielleicht im Haus beschäftigt. Wir nehmen also den Feldweg vor dem Dorfeingang, und schon geht’s bergan.

Bald lässt mir die Sicht von unten auf das felsige Massiv das Herz ganz weit aufgehen. Es gibt eine Postkarte, die ich auf Kreta erstanden hatte, von der wir glaubten, dass sie einen Teil des Kédros darstellt. Die ganze Zeit hatten wir gerätselt, um was für eine Schlucht es sich handeln könnte, die den Berg zerteilt, und hatten das Motiv daher zwischenzeitlich schon in die Weißen Berge verlegt. Doch nun, von nahem, kann man ganz klar erkennen, dass unsere erste Vermutung richtig war.

Links neben der tiefen Einkerbung erkennt man den Zickzackweg, über den wir bergan gestiegen sind

Der Kédros präsentiert sich schattenlos. Ein breiter und mitunter recht gerölliger Weg führt links der imposanten Schlucht im Zickzack-Kurs hinauf. Jedoch nicht ganz bis zur Spitze. Denn das letzte Stück scheint von unserem Standpunkt aus gesehen nur noch aus kargem, nacktem Fels zu bestehen, den man wahrscheinlich nur mit Kletterausrüstung bezwingen kann.

Bereits der Feldweg zum rot-gezackten Aufstieg ist für meine Verhältnisse und die wegen „Grippi“ angeschlagenen Bronchien etwas anstrengend. Doch so langsam läuft man sich ein.

Immer weiter geht es bergan. Der Weg ist im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubend, daher schalte ich einige Gänge zurück und lege häufige Pausen ein. So gelingt es mir, die Landschaft in mich aufzunehmen. Aufgrund des sehr diesigen Wetters kann man alles, was weiter entfernt liegt, nur erahnen. Konturen verschmelzen. Jedoch ist Paximádi immerhin sichtbar, als Orientierungspunkt in der Ursuppe.

Paximádia, die beiden unbewohnten "Zwieback"-Inseln.....

Mein Kopf fühlt sich in dieser feucht-heißen Diesigkeit ganz leer an. Schwere Gedanken wären auch viel zu anstrengend. Zurzeit ist also nur das Naheliegende wirklich klar erkennbar.

Die gegenüberliegenden Berge, der Vouvála und daneben der Sidérotas. Um seine Taille schmiegt sich das mittelbraune prächtige Band einer Schotterpiste, eine wunderschöne Farbe, wie sie wohl nur in der Natur vorkommt. Und dazu eine verwirrende Vielfalt fast parallel unter- und oberhalb dazu verlaufender Wege und Sträßchen in jedes entlegene Dorf.

Wunderbar erkennbar auch die mäandernde, asphaltierte Straßenführungen in der Senke, wie eine überdimensionale Carrera-Bahn, über die sich Spielzeugautos bewegen. Kría Vrísi und Néa Kría Vrísi, erinnern mich von hier oben aus an 2 Campingplätze, 2 Ansammlungen von kreuz und quer aufgestellten größeren Wohnwagen.

Stetig geht es bergan, der Bewuchs auf dem steinigen Untergrund ist äußerst spärlich. Große Büschel harzigen Salbeis erblicke ich, und weiß, dass ich ihnen auf dem Rückweg nicht widerstehen werde.

Ein Gefühl von Wildnis macht sich breit. Keine anderen Touristen in Sicht, auch keine Kreter. Die kreisenden Raubvögel, fast die ganze Zeit über zu sehen, ihre perfekte und ästhetische Flughaltung. Immer näher komme ich ihnen, sie ziehen mich an wie ein Magnet. Oft bleibe ich stehen, um ihnen zuzusehen, wie elegant und mühelos sie durch die Luft schweben. Da erblicke ich eine Ziegenherde, zwei Adler ganz in der Nähe, über ihnen. Vielleicht verirrt sich ja mal eines der kleineren Zicklein aus der Herde heraus. Immer schön wachsam bleiben und weiter kreisen. Unzählige Mücken sind begierig auf das Salz auf meinen Armen nach diesem schweißtreibenden Aufstieg.

Einer der oberen Zickzack-Ecken unseres Weges führt noch mehr nach rechts, Richtung Schlucht, hinaus. Von hier aus, mit den Adlern schon fast auf gleicher Höhe, kann ich nun auch die Messara erahnen. Das Licht spiegelt sich in den Plastikhäusern wider. Weiter möchte ich nicht mehr gehen, obwohl es noch möglich wäre.

Das Gefühl auf dem Kédros, auf einem rauen, nackten Berg inmitten einer schemenhaften Märchenwelt zu sein, die Ausblicke niemals klar, alle Konturen weiter weg nur verschwommen erahnbar. Auch das, was nah erkennbar ist, einzigartig berauschend schön, intensivste Gefühle von Freiheit. Keine störenden Geräusche. Hier oben, in dieser kargen Landschaft, ist man sich selbst und seinen Ursprüngen ganz nah, die schnörkellose Einfachheit des Seins, und die Freude darüber.

Der Weg hinab erscheint viel kürzer als bergan. Vielleicht sind wir ja gar nicht so hoch gestiegen. Schon bald sitzen wir sehr durstig und verschwitzt im Kafeníon in Néa Kría Vrísi. Im alten Kría Vrísi hätte es gleich zwei Kafénia gegeben, doch wären sie zur frühnachmittäglichen Stunde auch geöffnet gewesen? Die gleiche Frau vom Morgen, die uns alle guten Ratschläge mitgegeben hatte, steht draußen mit sorgenvollem Gesicht. Ob wir Brände gesehen hätten? Es rieche nach Feuer. Sie hätten alle große Angst davor. Nein, haben wir nicht wahrgenommen. Erst später sollen wir vom Bus aus sehen, was die Feuer dieses Jahres in der Umgebung angerichtet haben.

Eine weitere, schon greise Frau befindet sich in diesem ganz alten, urigen Kafeníon. Ein großer Raum, der Fußboden betoniert und die schiefen Wände weiß getüncht. Rechts neben der Eingangstür ist bereits ein großer Stapel Feuerholz aufgeschichtet. Ein größeres Loch in der Decke könnte für das Abzugsrohr vorgesehen sein, wenn der Ofen für den Winter in der Mitte des Raumes platziert wird. Im rückwärtigen Teil ein Tisch mit diversen gerahmten Fotos und einer kleinen „Theke“ samt Kühlschrank, den kleinen Fernseher nicht zu vergessen. Für die Gäste 3 Tischchen mit wenigen Stühlen. Alles sehr spartanisch anmutend, obwohl wir uns doch gar nicht auf dem Peloponnes befinden. Kühle Getränke in einem kühlen, zeitlosen Raum in Kría Vrísi, was wollen wir mehr? Ah ja, den Bus nach Agia Galíni. Er kommt pünktlich.

Im Bus befinden sich noch 2 Kinder, die nach Saktoúria wollen, obwohl dieser Bus da gar nicht hinsoll. Nun muss der Busfahrer aber doch den Umweg fahren, und schimpft die ganze Zeit wie ein Rohrspatz. Er scheint sich gar nicht mehr einzukriegen. Für uns bedeutet das noch ein Sahnehäubchen an Aussichten, unglaublich. Nicht nur, dass wir noch nach Saktoúria fahren (wobei man ja schon fast in Agios Pávlos wäre!), wo der Bus ein abenteuerliches Wendemanöver vollführt.

Um sich ein wenig zu beruhigen ruft der Busfahrer einen jungen Mann herbei, der gerade des Weges daherkommt („Ela spo“) und befiehlt ihm, die auf der Straße herumliegenden größeren Steine wegzuräumen, weil man sich sonst die Reifen aufschlitzt. Der Mann nickt mit unbewegtem Gesichtsausdruck und geht an den Steinen vorbei. Soviel zur Autorität des Busfahrers. Zum Glück regt er sich nicht mehr auf, sondern schweigt. Weiter geht die Fahrt nach Mélambes, mit sagenhaften Ausblicken in das Amári-Becken, zwischen Psilorítis und Kédros. Dort möchte ich nun auch unbedingt mal hin. Auch hier wäre mit Ressentiments gegen uns Deutsche zu rechnen. Verständlicherweise. Für den Anfang würde vielleicht eine Busfahrt hindurch reichen, aber ich kenne mich, eine solche Fahrt wäre lediglich ein Appetitanreger.

Erschreckend die Bilder zwischen Mélambes und Agia Galíni. Die diesjährigen Feuer haben ganze Hügel verwüstet. Und unzählige alte Olivenbäume angesengt oder teilweise verbrannt. Viele sind auch bis auf einen schwarzen Stumpf verkohlt. Unglaublich die Tragweite, und nun verstehe ich auch die Furcht der Kafeníon-Frau in Kría Vrísi.

Ach ja, dem Salbei auf dem Kédros konnte ich wirklich nicht widerstehen. Ein kretischer Freund sagte mir einmal, dass der Salbei, der kurz vor dem Herbstregen gepflückt würde, der beste sei, weil er sein ganzes Aroma entfalte. Darüber könnte man sich jetzt sicherlich streiten. Jedoch habe ich selten so intensiv duftendes Kraut geerntet, meine Hände rochen hinterher noch lange richtig harzig. Und erst mein Rucksack im Flugzeug! Wenn ich mir heute, wieder in Deutschland, eine Tasse des köstlichen Tees braue, tue ich es in der Erinnerung an dieses berauschende Wandererlebnis und in dem Bewusstsein, Salbeitee VOM KEDROS zu trinken. Es ist schon etwas ganz Besonderes!