Gíngilos
(September 2004)




Nach einer kühlen Nacht auf der rund 1000 m hoch gelegenen Omalós-Ebene, unter den wärmenden Decken des kuscheligen Néos-Omalós-Hotels, wache ich schon früh am Morgen auf. Noch ist alles ruhig, die Gäste scheinen noch zu schlafen. Nach einer Weile höre ich Tellerklappern, also bereitet sich die Familie, die das Hotel seit drei Generationen bewirtschaftet, auf die Gäste vor.

Oft kommen Reisegruppen mit Bussen an, die neben denen, die im Hotel nächtigen, bewirtet werden möchten. Mehrere Stunden vollgepackt mit den Bedürfnissen an- und abfahrender Gäste, Essenszubereitungen, Lunchpakete packen (für die Samariá-Wanderer), ansprechbar sein, sehr professionell gehandhabt von Giórgos, dem Sohn der Familie und Hotelmanager.

Heimelig die Atmosphäre im Essensraum. Es duftet nach Kaffee und getoastetem Brot. Mein Frühstück nehme ich noch vor den beiden englischen Reisegruppen ein, zwei avgá mátia (Spiegeleier – „Augeneier“), die mich für mein Vorhaben, den Weg zur göttlichen Linoséli-Quelle, stärken sollen.

Gegen 7.30 Uhr setze ich mich voller Tatendrang in Bewegung. Um mich ein wenig warmzulaufen, verzichte ich auf die Mitnahme im hoteleigenen Kleinbus zum Eingang der Samariá-Schlucht, der ebenfalls Ausgangspunkt für die Gíngilos-Besteigung ist.

Noch ist alles klamm, wie ein früher kretischer Besucher im Hotel bereits mitgeteilt hat. Und kalt, nur wenige Grad über Null an diesem sonnigen September-Morgen. Ein eisgekühlter Stein, den ich zwischendurch aufhebe, lässt meine Hand erschrocken zurückfahren. Handwarm soll er mir etwas Zuversicht als mögliche Hundeabwehrwaffe bieten, man weiß ja nie. Doch im Ernstfall hätte ich gegen einen wütend knurrenden, zähnefletschenden Hütehund wohl keine Chance.

Die Kälte treibt mich flotten Schrittes mitten hinein in eine Schafherde, die noch auf der Suche nach einem geeigneten Weideplatz ist. Ohne Wachhund. Gemeinsam setzen wir unseren Weg fort, die Schafe immer ein wenig voraus. So ganz geheuer ist ihnen meine Anwesenheit nicht, sobald ich ihnen zu nah komme, galoppieren sie ein paar Meter davon. Die Nachzügler, darunter auch eines mit einem schlimmen, keuchenden Husten, bleiben ebenfalls auf Distanz.

So traben wir denn durch die frische, grüne Omalós-Ebene, den Gíngilos im Blick, dessen Gipfel von einer roten Morgensonne erhellt wird. Ja, dort hinauf möchte ich am liebsten und kann mir einen Weg auf dem nackten Gestein kaum vorstellen.

Wenige Busse nur kommen mir entgegen. Sie haben bereits die Schluchtenwanderer abgesetzt und heizen jetzt auf der Fahrstraße zurück, was die Schafe erstaunlicherweise vollkommen unbeeindruckt lässt. Rasende Autos sind sie wohl gewöhnt, dafür gehen sie noch nicht mal zur Seite, doch lebendige Menschen sind ihnen nicht geheuer. Ganz schön verrückt!

Mein Weg führt zum Xénia-Gästehaus, wo man mich gestern verhungern ließ und gleich hinter dem Gebäude weiter auf den E4-Pfad, vorbei an einem laut bellenden, aber freudig wedelnden, angeketteten Hund. Das erste Teilstück: ein vorgelagerter Hügel.

Der Pfad lässt sich in Serpentinen gut bergan gehen, ist gelegentlich durch eingebaute Stufen etwas entschärft. Immer umfassender wird die Aussicht auf den Schluchtenwald, der noch im Gegenlicht der sich erhebenden Sonne verschwommen wirkt.

Vielleicht liegt es auch an meinem verquollenen Augengefühl, die Lider wollen sich gar nicht richtig öffnen. Der Gíngilos indes, zumindest die Spitze, erstrahlt hell und klar an diesem Morgen.

Lautes Getöse zeigt mir, dass ich nicht alleine bin. Ein Paar steigt vor mir bergan, einfach zu laut für meinen Geschmack. Wie kann man da der Natur lauschen? Ich lasse sie ein wenig voraus gehen, bleibe sowieso oft stehen, um den Blick genießerisch über die grüne Ebene schweifen zu lassen. Im alten Dorf Richtung Soúgia, dort beim einäugigen Pávlos, steigt Rauch auf.


Nach einer Weile des Anstiegs nimmt der Pfad eine andere Richtung, führt sogar für eine Weile bergab. Die Schotterhalde des Sapiménos vor Augen, die nun gar nicht mehr so feinsandig wirkt, sondern so – wie die Umgebung – grobsteinig. Hier beginnt nun das zweite Teilstück: eine bizarre Felsenlandschaft. Unvermittelt öffnet sich ein Tor aus Stein, das Xepithíra, und bald darauf noch zwei weitere, kleinere, durch die man hindurch geht, auf dem Weg zur Linoséli-Quelle.

Doch zunächst steige ich weiter bergab, nähere mich dem Sapiménos. Mittlerweile ist die Sonne schon höher gestiegen. Auch von dem kalten Wind, der mir noch am Anfang der Wanderung um die Ohren pfiff, ist hier nichts zu spüren.
Riesige, scharfkantige Felsen mit dem Aussehen von überdimensionierten Termitenhügeln tauchen mitten im Geröll auf. Himmlische Ruhe und eine fantastische Sicht auf den Samariá-Wald, der sich den gegenüberliegenden Hügel hinauf zieht, begleiten mich bis zur Quelle.

Einen besseren Platz hätte Zeus sich nicht suchen können, um sich zu erfrischen, von seinem Nebenwohnsitz auf dem Gíngilos herabgestiegen, heimlich beobachtet von Nymphen. Hier, wo er sich Ruhe vor den Zwistigkeiten und Ränkespielen seiner Welt verschaffen konnte, komme auch ich zur Ruhe.

Nachdem das amerikanische Paar und eine englische Wandergruppe die Quelle verlassen haben, bin ich längere Zeit allein. Nur das Summen unzähliger Insekten, die das erfrischende Nass der Quelle ebenso schätzen wie ich, und wenige Vögel schwirren um die drei Tränken, in denen das Wasser aufgefangen wird. Es schmeckt einfach köstlich. Nicht nur sehr kühl und erfrischend, sondern felsig, rein und klar. Gezapft hatte ich es aus einem den drei Blechwannen vorgelagerten Schlauch.

Wieder auf meinem bequemen Platz auf einem Felsen sitzend sehe ich jenseits der Schlucht den E4-Serpentinenweg zur Kallérgiehütte, und rechts neben einigen Hügelspitzen einen anderen Pfad, der sich weiter in die Weißen Berge hineinzieht, vermutlich die Fortsetzung des E4 durch das Gebiet des Melindaoú. Direkt unterhalb ein Seitental der Samariá-Schlucht.

Ruhe, sanftes Wasserplätschern, Insekten. Gelegentlich Wanderer, die kurz rasten. Nein, heute kein dämonisches Gelächter aus den unterirdischen Höhlen.





Eigentlich war diese Quelle mein heutiges Wanderziel, weil ich bergauf ein wenig aus der Übung bin. Doch bisher hat mein langsamer Anstieg mir so viel Freude bereitet, dass ich mich von meiner Neugier weiter treiben lasse. Bis zum Gipfel muss ich ja nicht gehen. Es ist gut, wenn man seine Ansprüche nicht zu hoch hängt und nicht an erster oder höchster Stelle stehen muss.

Die Sonne steht bereits recht hoch und brennt nun auf den Geröllpfad, der sich gut begehbar in unzähligen Kurven links der Schotterhalde hinaufwindet. Einmal klackert ein Stein mit Getöse den Hang hinunter, vielleicht ausgelöst durch Krähen, die hier ihre Kreise ziehen.

Die Last der vergangenen, so arbeitsreichen und stressigen Monate fällt mit jedem Schritt von mir ab. Die Sicht auf das gegenüber liegende Bergmassiv wird immer eindrucksvoller. Anhand der weiterhin gut sichtbaren E4-Wege kann man abschätzen, in welcher Höhe man sich selbst befindet. Die Kallérgie-Hütte liegt auf 1680 m, und so hoch bin ich sicherlich auch gestiegen, als ich einen Sattel erreiche, von wo ein schmaler Pfad nach links den Hang bergan, Richtung Gipfel, führt.

Eine kühle Brise tut wohl. Nun befinde ich mich auf einem Teilstück, von wo ich sowohl die Nordküste, als auch Richtung Süden bis nach Gávdos und Gavdópoula sehen kann, die Inseln, die sich aus einem blau-dunstigen Hintergrund schälen.

Der Blick nach Osten zeigt die Bergwelt der höchsten Léfka-Ori-Erhebungen, den Melindaoú, den Páchnes und zahlreiche andere Gipfel, die ich nicht zuordnen kann. Der Nordwind bläst eine Wolkenfront mit großer Geschwindigkeit immer tiefer in die Berge hinein. So kann ich mir gut vorstellen, wie schnell Nebel hier aufziehen kann.

Von hier aus genoss Zeus also eine hervorragende Übersicht auf die Welt, den „zivilisierten“, sanften (touristischen) Norden und den wilderen, steil zerklüfteten Süden. Himmlische Stille!

Was gibt es Schöneres, als sich sorgenfrei die Welt von oben zu betrachten. Niemand, der mich hetzt, niemand, der mich bremst. Eins mit mir und dem mich umgebenden Stoff, aus dem wir sind. Welch ein Geschenk, dass ich Kreta entdecken durfte, das mir immer wieder Gelegenheit bietet, zu mir zurück zu kommen, zu meinem inneren Kern, meinem Optimismus und Wohlgefühl.


Es sind die einfachen Dinge, die ich so schätze, einen Spaziergang einen kargen Berg hinauf, noch nicht mal bis zum Gipfel, es ist auch die körperliche Anstrengung, die Aktivität, die mich zufrieden macht.

Meinen Rückweg beginne ich, als die Wolkenfront immer näher rückt. Schon einmal war ich bei einem nachmittäglichen Besuch auf Kallérgie von plötzlich aufkommendem Nebel überrascht worden. Daher weiß ich, dass man schnell die Sicht verlieren kann. Diesmal geschieht nicht viel. Einige Wolkenfetzen werden zwar auch Richtung Gíngilos getrieben, verbleiben jedoch in den oberen Regionen.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Geröllfeldes erhebt sich laut kreischend der Krähenschwarm, um einen kleinen Ausflug zu unternehmen und wieder zurückzukehren. Kleinere Gerölllawinen gehen dabei immer wieder ab.

Das Licht des Nachmittags lässt einen klaren Blick in die Samariá-Schlucht bis zur Sohle zu, die vielen Waldbäume, der gleißende Grauberg, die wohlriechenden Zypressen. Was am Morgen noch verschwommen erschien, ist nun ganz deutlich wahrnehmbar. Mir gefallen besonders die vielen knorrigen Zypressen, die aus dem Stein in allen erdenklichen Schräglagen wachsen, das dunkle, trockene Grün vor grau-silbern-schimmerndem Gestein.

Im letzten, etwas mühsam empfundenen Teil meines Weges (da bergab), bläst wieder - wie am Morgen - ein kräftiger, kühler Wind. Man tut gut daran, auf den Weg zu achten, das viele Geröll verheißt nur wenig Trittsicherheit. Hin und wieder bleibe ich stehen, genieße den Blick über das fruchtbare Rund, die so gut sichtbaren Wanderwege auf der anderen Seite, den Schluchtenwald und die Berge, im Gepäck nicht nur unvergessliche Ausblicke, sondern auch eine Flasche mit köstlichem Wasser, die ich mir in Linoséli noch mal aufgefüllt habe.

In der Kantína, neben dem Xénia-Haus, erwarten mich lächelnde Kreter, Gemütlichkeit und kretische Musik sowie ein prima mundendes Ham-and-cheese-pie samt heißem Kaffee. Innerlich gestärkt und froh mache ich mich nach einer ausgiebigen Rast auf den Rückweg zum Hotel am Eingang der Ebene, die wenigen Kilometer sind schnell bewältigt, ein wunderbarer Ausklang mit Schafsglockengeläut und vorbeipreschenden Autos.