Ausflug nach Nas



Der Sonnenuntergang, von Nas aus gesehen, soll einer der malerischsten der Ägäis sein. Auch der gleichnamigen Badebucht eilt der Ruf einzigartiger Schönheit voraus.


Um die Mittagszeit machen wir uns auf den Weg von Armenistís nach Nas, vorbei an mehreren kleinen und größeren Hotels und Privatunterkünften, deren Außenbereiche sich teilweise sehr reizvoll ausgestaltet am Hang entlang bis hinunter zum Meer erstrecken. Durch eine nach Kräutern duftende, trockene Landschaft gestaltet sich hinter dem Ortsausgang unser schweißtreibender Weg als unerwartet lang. Ab der Mitte der Strecke entschließen wir uns, nach einer Mitfahrgelegenheit Ausschau zu halten. Und tatsächlich, hier funktioniert das Trampen noch gut. Der nächste Pickup hält an, und wir fahren mit zwei jungen Mädchen auf der Ladefläche nach Nas, einem kleinen Örtchen mit Unterkünften und Tavernen.

Nas liegt am Fluss Chaláras, der auch der mit üppiger Vegetation bewachsenen Schlucht, die er durchschneidet, seinen Namen gegeben hat. Auf den Wanderkarten der Region, die hier auf der Insel erhältlich sind, ist auch eine Strecke am Fluss entlang aufgezeichnet, die für den Naturfreund und Wanderer sehr beeindruckend sein soll, wie wir von unserem schwedischen Mitbewohner in der Pension erfahren haben. Diese Schlucht ist gleichzeitig der Beginn eines „Natura 2000“-Gebietes, das sich bis auf die andere, unzugänglichere Inselseite erstreckt.

Chaláras-Fluss, rechts die Überreste eines Artemis-Tempels

„Das Netz Natura 2000 besteht aus den Gebieten der Fauna-Flora-Habitatrichtlinie (FFH-Richtlinie, vom 21. Mai 1992, 92/43/EWG) und der Vogelschutzrichtlinie (vom 2. April 1979, 79/409/EWG). Die FFH-Gebiete werden auch als Gebiete gemeinschaftlicher Bedeutung (GGB) bzw. Special Areas of Conservation (SAC), die Vogelschutzgebiete als besondere Schutzgebiete bzw. Special Protected Areas (SPA) bezeichnet. Sie werden nach EU-weit einheitlichen Standards ausgewählt und unter Schutz gestellt.“ (Bundesamt für Naturschutz)
Hier soll es 19 verschiedene Biotopenarten, 21 endemische Pflanzenarten und 15 Arten von Wirbellosen geben!

Nachdem wir uns in einer der Tavernen mit einem kühlen Getränk erfrischt haben, steigen wir die Treppenstufen hinab auf den Talgrund.
Schon viele andere Badegäste haben sich eingefunden und sich am sandigeren Teil des von Felsen eingerahmten Strandes ausgebreitet. Fast ausschließlich Griechen. Viele „Freaks“, die offensichtlich hier campieren und ihren Schlafplatz tagsüber mit anderen teilen. Auch solche, die in der sengenden Sonne ganz ohne Schirm auskommen, au weia.


Wir suchen uns den rechten Rand der Bucht aus, stecken unseren Schirm zwischen die dicken Kiesel, bauen noch ein paar andere Wackersteine drumherum, damit er nicht wegfliegt, denn im Laufe unseres nachmittäglichen Aufenthaltes nehmen Wind und Wellenbewegung enorm zu.

Ein Bad im Meer erscheint mir schon fast lebensgefährlich. Wellen donnern mit Macht gegen die Steine. Der Strand mit den großen Kieseln bietet dem ungeübten Stadtmenschen kaum Halt, denn große Wellen ziehen einem förmlich den Boden unter den Füßen weg. Nee, das ist mir too much.

Lieber erfrische ich nur mal kurz die Beine und lege mich ansonsten unter unseren Schirm, lausche den herumschleudernden Kieseln im Wasser, der Brandung, genieße das Glitzern des Wassers, den Wind auf der Haut, das Zirpen der Zikaden und erblicke einen riesigen Schmetterling, der in der Nähe der Wasserkante herumflattert. Ein entspannter Urlaubstag. Herrlich!

Nach einer Weile möchte ich mir den inselwärtigen Teil der Bucht etwas genauer anschauen, die eigentlich eher eine verbreiterte Flussmündung darstellt, dessen Gewässer zu dieser Jahreszeit jedoch schon etliche Meter vor dem Strand versickert. Sein bräunlich-trübes, fast stehendes Wasser beherbergt jede Menge Algen, deren Population sich seit dem Krieg wieder erholt hat, als man auf dieses Nahrungsmittel angewiesen war. Auch Aale soll es hier geben.

Gegenüber der dicht mit Schilf bewachsenen Seite, etwas erhöht, liegen die Überreste eines Artemis-Tempels. Bis zum oberen Teil des Hangs erstreckt sich ein zypressengesäumtes großes Areal, das möglicherweise Hinweise auf ein wesentlich größeres Gelände gibt, das den Menschen der damaligen Zeit heilig war. Vorstellbar auch, dass der Wald von den Bergen bis hierher reichte, in dem man bei der Jagd gute Beute machen konnte. Auch der Fluss war sicherlich fischreich.

Der Name Nas mag vom Wort Naós (Tempel) abgeleitet worden sein. Geweiht war er der Artemis, Zwillingsschwester des Apoll, als Göttin der Fruchtbarkeit zunächst in Kleinasien verehrt; als Beschützerin der Natur und ihrer Kreaturen tötet sie diese jedoch auch gleichzeitig. Der Tempel der Artemis in Nas wurde auch Naós Tavropólou Artémidhos genannt.
In verschiedenen Quellen liest man, dass das Heiligtum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten geblieben war, die Steinblöcke dann zum Bau einer (wohl christlichen) Kirche in Ráches verwendet wurden. Hätte man damals gewusst, welchen Anziehungspunkt für Besucher aus aller Welt im darauffolgenden Jahrhundert man zerstörte!
Eine besonders ausstrahlungsstarke Statue der Göttin, die den Vorhof des Tempels zierte, soll im Fluss versenkt worden sein. Aus Aberglauben oder um sie zu verstecken?
Heute erkennt man noch die Reste der Grundmauern des Tempels, aber auch kleineres weißes Marmorgestein, das über die Anlage verstreut liegt. Auch tönerne Scherben liegen in losen Haufen herum.

Die Bucht von Nas beherbergte in alten Zeiten auch einen windgeschützten Hafen, dessen Überreste noch heute zu sehen sind. Er soll in der Region sehr bedeutend gewesen sein und insbesondere Seeleuten bei stürmischem Wetter Zuflucht geboten haben.

Die Mischung aus biologischer Vielfalt, dem Aufeinandertreffen von Süß- und Salzwasser und der mystischen Vergangenheit üben einen ganz eigenen Reiz auf den Besucher dieses Fleckchens Erde aus.

Als der Wind später mit einem Crescendo unserem Sonnenschirm endgültig den Garaus zu machen droht, beschließen wir, wieder nach oben zu gehen und die Liotrópia, die Lichtspiegelungen der Sonne auf dem Wasser, von einer bambusgedeckten Taverne aus zu betrachten.


Direkt über der Bucht nehmen wir ein üppiges Fisch-Patátes-Saláta-Mahl ein. Laut tutend zieht die Samos-Piräus-Fähre vorüber, weiter entfernt schieben sich Frachter am Horizont entlang.

Jetzt, am frühen Abend, ist die Hitze des Tages gewichen. Der kräftige Wind, den wir unten am Strand gespürt haben, ist hier oben nur als angenehme Brise fühlbar. Einen Frappé nippend sehen wir, wie sich der Ausschnitt des Meeres, auf dem die Sonne den Horizont trifft, leicht verfärbt. Nur ein schmaler Streifen lässt das Schauspiel erahnen, das uns bald erwartet: einen Sonnenuntergang im Meer!

Das Licht, das die Augen am Tage geblendet hat, egal in welche Richtung man auch schaute, konzentriert sich allmählich trichterförmig auf dem Wasser. Hat man den ganzen Tag über die Zeit vergessen, die Zeit nicht wahrgenommen, die Zeit einfach gelebt, stellt man plötzlich fest, dass sich dieser Tag nun dem Ende zuneigt. Und das dauert.

Auf einmal scheint die Uhr langsamer zu gehen. Man ahnt lediglich, was wieder kommen wird, man will es wieder erleben: die Farben des Regenbogens, ausgebreitet über den Horizont. Man muss einfach geduldig warten können. Hat man den Tag über die Zeit nicht gewichtet, dehnt sich diese eine Stunde bis zum Sonnenuntergang in die Ferne. Zeitwellen formen sich über dem Meer und rollen langsam, sich ständig wiederholend und brechend, dem Ufer zu. Immer wieder, endlos.

Wir haben uns vorgenommen, hier sitzen zu bleiben, um die Farben zu erleben, auch wenn diese eine Stunde unendlich erscheint. Die einzige Frage, die uns im Moment beschäftigt, ist, ob wir den Platz wechseln sollen, denn letztendlich hat die Sonne einen Winkel erreicht, aus dem sie unter das geschwungene Bambusdach der Taverne scheint. Noch spüren wir ihre Wärme, noch blendet sie, doch wir wissen, dass ihre Kraft abnehmen wird, bis sie schließlich nicht mehr spürbar ist. So wie es auch vorherbestimmt zu sein scheint, dass sich die Sonne eines Tages zu einem Roten Riesen aufblähen, die Erde verschlingen und ihr Dasein dann als massereicher Weißer Zwerg führen wird. Das war’ s dann mit der Menschheit. Ach, welche Gedanken! Genießen wir diese eine Stunde, als ob es die letzte wäre.

Bereits die zweite Flasche Wasser ist geleert, und immer noch haben wir Durst von der salzhaltigen Luft. Eine weitere Fähre braust heftig schaukelnd nach links. Immer lauter donnern die Wellen mit voller Wucht auf den Steinstrand der Bucht. Ein Blick nach unten zum Tempel – und in unseren Köpfen beginnt das Stierritual.

Im goldenen Licht treten die Priesterinnen singend vor den Marmortempel, ein Stier wird zur Opferstätte geführt. Unter der hohen Artemisstatue verharrt die Prozession. Langsam wiegen die Oberkörper der Priesterinnen im Abendlicht gleichförmig hin und her, während ihr Gesang langsam anschwillt.
Ein Schnitt in die Halsschlagader des Stieres und das Blut spritzt heraus. An Seilen festgezurrt, verlässt den Stier nach und nach seine Kraft. Das mächtige Tier bricht ein, während sein Blut in speziellen Gefäßen aufgefangen und in einen Kelch gegossen wird, den man der Hohepriesterin reicht. In Trance setzt sie das Gefäß an ihre Lippen und leert es aus. Mit gebrochenen Augen verendet der Stier. Seine Kraft ist symbolisch auf die Priesterin übergegangen.

Hinter den gleißenden Wellen des stürmischen ikariotischen Meeres hat sich eine dünne, helle Linie am Horizont gebildet, darüber ganz diffuses Licht. Die Glitzerstraße auf dem Wasser ist immer schmaler geworden, die Sonne verwaschen, zaubert noch viele Punkte vor die Augen.

Breite Farbbänder, die sich ineinander verweben, gestalten nun das Lichtspiel. Von hellem Blau, das in ein grünliches Leuchten, ein gelb-oranges Violett übergeht. Immer breiter wird der rote Streifen, der sich jetzt im Wasser zu spiegeln beginnt. Bald ist das Farbband zweigeteilt: Das gelblich-grüne oberhalb der Sonne und das tiefdunkelrot-violette darunter. Die Sonne selbst ist jetzt ein glühend roter Feuerball, im Eiltempo dem Meere zustrebend, während der gesamte Horizont sich immer weiter verfärbt. Wir sitzen inmitten dieses Spektakels, werden mit den Farben eins. Unsere Gedanken gleiten über die See, tauchen in eine Welt der Erinnerungen an frühere Zeiten und vermischen sich mit der Erwartung auf das unbekannte Morgen. Wir schauen uns an, die Augen sind feucht.

Ruhe ist eingekehrt. Wie ein glühender Backofen und vollkommen außer Form befindet sich bereits die Hälfte des Feuerballs flimmernd irgendwo im diffusen Blau-Grau, wo Himmel und Meer aufeinandertreffen, bis schließlich nur noch ein einziger roter Punkt sichtbar ist. Ganz plötzlich wird auch dieser ausgeknipst, während der verfärbte Himmel weiterhin leuchtet. Sehr schnell wird es nun dunkel.



Evdhilos