Besuch einer Derwisch-Zeremonie


Die Besichtigung der Agia Sofía hallt nach, auch auf unserem Rückweg zum Hotel. Wir reden und schweigen wieder, versuchen, unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, doch es ist alles nur Stückwerk.
Nach einem solchen Erlebnis bietet es sich an, den Tag ausklingen zu lassen, ruhig und gemütlich, um auch den Geist ein wenig zur Ruhe kommen zu lassen. Aber nicht wir, neeeein, denn wir könnten ja etwas verpassen! Nach den Monaten der Arbeitsroutine lechzen wir nach Erlebnissen und Neuem.
Also dient unser Hotelaufenthalt lediglich einer kurzen Erfrischung und dem Umschalten auf das, was uns erwarten wird.


Seit 2005 steht das Ritual der drehenden Derwische auf der UNESCO-Liste der „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“. In der Vorbereitung auf unsere Reise habe ich gelesen, dass Derwische in Istanbul irgendwo in der Nähe des Sirkeci-Bahnhofs in Eminönü in einem Haus gelegentlich Besucher an ihren Zeremonien teilhaben lassen. Und so hat es mich doch verwundert, wieso wir ihnen ausgerechnet in einem Restaurant begegnen sollten?! (Die Tickets hatten wir ja spontan am Vorabend – sozusagen im Vorbeigehen - gekauft.) Und nicht nur das: Nicht nur eines, sondern viele Lokale sind auf den Zug aufgesprungen, wie wir im Laufe des Tages festgestellt haben. Derwische scheinen es mit ihren „Tänzen“ zu einer (fragwürdigen) Touristenattraktion gebracht zu haben. Selbst im Basar haben wir ja einen Laden entdeckt, in dem Zeichnungen von wirbelnden Derwischen verkauft werden. Erklärbar ist dieser Umstand vielleicht aus der Geschichte heraus, denn seit 1925 ist die Ausübung religiöser Rituale in der Türkei verboten, so auch die Sema-Zeremonie der Derwische. Einzig als (touristische) Kulturveranstaltung ist sie erlaubt.
Na ja, denke ich, der Restaurant-Auftritt ist zwar nicht so ganz, wonach ich gesucht habe, aber lassen wir uns einmal überraschen.

Am frühen Abend kommen wir im Restaurant Alemdar an. Im Eingang sitzen drei Musiker, die mit den Derwischen nichts zu tun haben, sondern erst nach der Zeremonie spielen werden. Als ich sie um ein Foto bitte, schnappen sie sich gleich ihre Instrumente und legen los.

An einer älteren Dame vorbei, die im hinteren Teil des Restaurants auf einer riesigen Platte Fladen backt, werden wir die Treppe hoch auf die gut besetzte Terrasse geleitet und nehmen im Schatten der angestrahlten Agia Sofía an einem Tisch mit zwei gegenüberstehenden Bänken Platz. Wir bestellen einen Vorspeisenteller (Fava, Auberginenpüree, Tsatsiki, Tomaten und frisch gebackenes Brot), ein nachfolgendes Hauptgericht für zwei Personen (verschiedene Fleischsorten mit Kartoffeln und Reis) und ein kühles Bier.
Dieses wird uns im Cola-Glas serviert!? Man erklärt uns, dass wir nach der Zeremonie gerne „normale“ Biergläser haben könnten, doch aus Respekt sollten wir während der „Aufführung“ bitte darauf verzichten. Also doch nicht nur ein Touri-Ding, sondern ernst gemeint? Beim Wein, so sehen wir auf anderen Tischen, scheint es keine Hindernisse zu geben.

Vier Musiker haben sich hinter dem Podest eingefunden. Sie tragen hellbraune Kamelhaarhüte und stimmen sich auf ihre musikalische Darbietung ein. Der Sänger erklärt den Ablauf der Zeremonie und stellt die Instrumente vor: Nei (die persische Flöte aus dem Kreuzworträtsel), Ud (Laute), Kanun (ähnlich Santour oder Zither) und eine Tambour-Trommel, mit der er seinen Gesang begleiten wird. Die gesungene Sprache ist Persisch. Zur Einführung werden zwei Lieder gespielt, daraufhin treten die Derwische ein und die Zeremonie (das Sema-Ritual) wird ihren Verlauf nehmen.

Das Wort Derwisch hat für Alex und mich verschiedene Bedeutungen. Alex verbindet mit dem Begriff einen aufrechten, bescheidenen Mann, wo hingegen aus unserem Sprachgebrauch Derwisch mit Wildheit, vielleicht auch Verrücktheit, Ekstase, oft mit etwas nicht Kontrollierbarem gleichgesetzt wird.
Eigentlich kommt der Begriff aus dem Persischen und steht für einen asketischen Mönch.

Derwische praktizieren den Sufismus und gelten (nach Wikipedia) als „Quelle der Klugheit, der Heilkunst, der Poesie, der Erleuchtung und der Weisheit".
Aufmerksam geworden bin ich auf den Sufismus vor langer Zeit als Abonnentin des ultradünnen, mit ultrakleinen Buchstäbelchen beschrifteten Katalogs des 2001-Versands. Weltmusik hat mich schon immer interessiert, und so „landete“ ich auch bei Nusrat Fateh Ali Khan, einem famosen pakistanischen, leider schon verstorbenen Qawwali-Interpreten von Weltruhm, der so irre Improvisationen sang.

Was versteht man unter Sufismus? Im Buch „Der Islam – Geschichte, Kunst, Lebensformen“ von Francis Robinson, (in deutscher Übersetzung erschienen im Christian-Verlag) erhält man folgende Erklärungen (Seite 30):
„Die zweite große formative Kraft (neben der Scharia) in der Entwicklung der islamischen Zivilisation war die Mystik, genauer, die allgemein als Sufismus bekannte Lehre (...)
Der Terminus sufi selbst leitet sich wahrscheinlich vom arabischen suf (= Wolle) her, ein Hinweis auf die einfachen wollenen Kutten der Mystiker, die sich von den reich bestickten Gewändern weltlicher Moslems unterschieden.“

Eine weitere Erklärung liefert die Beilage der CD Nusrat Fateh Ali Khan – Qawwal and Party Shahen-Shah (freie Übersetzung):
„Im Herzen des Sufismus ist das Herz selbst. Ehrfurchtsvolle Liebe zu Gott, seinem Propheten Mohammed und seinem Freund Ali. Musik ist das Mittel, um das Herz zu erreichen und einen Status von göttlicher Gnade oder Erleuchtung zu erreichen, ein ‚zustandsloser Zustand’ – das innere Wissen.
Die Musik liefert ein nicht greifbares Wechselspiel zwischen Form und Inhalt, das bei besonderen Wörtern verweilt, um einen weiteren Kontext herzustellen, indem es der einfachen Sprache zu großer Tiefe verhilft. Die Trance-auslösende Wiederholung eines Satzes oder eines Ausdrucks deutet auf beides hin, den offensichtlichen und den versteckten Kontext, indem die Zuhörerschaft mitgenommen wird auf eine Entdeckungsreise neuer Bedeutungen, plötzlicher Offenbarungen (...) Beide, Künstler und Zuhörer, werden in diese erhöhte Erfahrung hineingezogen – Worte werden wiederholt bis alle Bedeutung erschöpft ist und nur die Reinheit der Form bestehen bleibt – ein universelles ‚Verstehen’, das sogar sprachliche Barrieren durchdringt“.

Eine andere Richtung des Sufismus vertritt der in der Türkei verbreitete Mevlana-Orden, der seinen Ursprung in der türkischen Stadt Konya hat. Derwische in der Türkei gehören in der Regel dem Mevlana-Orden an und versuchen über Musik und Tanz Erkenntnis zu erlangen.
Bekannt ist der Drehtanz der Derwische in ihren weißen Gewändern. Bei Wikipedia heißt es: „Für einen außenstehenden Betrachter erscheint diese Zeremonie wie eine schöne Aufführung, die einem Ballett sehr ähnlich ist. Für die Mevlevis handelt es sich aber dabei, wie bei jedem Dhikr, um eine Form des Gebets, in der man die Möglichkeit hat, sich der Welt komplett zu verschließen und Gott näher zu kommen.“ Was also spricht dagegen, das Ritual in einem Restaurant zu vollziehen?

Sobald die Musik beginnt, vergessen wir unsere Vorspeise, obwohl diese gerade unsere Geschmacksnerven auf eindrucksvolle Weise angesprochen hat. Der Vortrag ist leicht, beschwingt und verzaubert uns. Es ist insbesondere die Flöte, die mit ihrem hellen Klang die Zuhörer in ihren Bann zieht, ohne dabei aufdringlich zu wirken.
Einer der Derwische breitet an einer Seite zwei weiße Felle, an einer anderen Seite ein rotes Fell aus (Symbol für die höchste geistige Instanz), vor dem er sich verneigt. Danach zieht er sich wieder zurück.
Als er kurz darauf mit zwei weiteren Derwischen das Podest betritt, sind unsere Kameras bereit. Ihr „Auftritt“ ist augenscheinlich nicht nach außen gerichtet. Es applaudiert auch niemand.


Längere Zeit stehen sie in einer Reihe nebeneinander, während die Musik weiter spielt. Sie tragen ebenfalls Kamelhaar-Hüte (Symbol für den Grabstein -) und schwarze Kaftane (Symbol für das Grab des eigenen Egos). Mehrmals verbeugen sie sich vor dem roten Fell, verbeugen sich immer wieder und fallen schließlich auf die Knie, die allertiefste Ehrerbietung.


Ruhigen Schrittes durchmessen sie danach das Podest. Einer nach dem anderen nehmen sie die schwarzen Umhänge ab und beginnen sich in ihren weißen Glockenröcken (Symbol für das Leichentuch des eigenen Ichs) zu drehen. Dabei sind die Arme zunächst gekreuzt, die Hände ruhen auf den Schultern.


Langsam recken sie die Arme empor, ein wenig erinnert es an ein Sich-Räkeln nach dem Schlaf. Den Kopf leicht geneigt, die eine Hand nach oben geöffnet, die andere nach unten, drehen sie sich leichtfüßig über das Podest und um die eigene Achse, immer weiter. Hin und wieder halten sie inne, verbeugen sich und das Ritual beginnt erneut.



Ebenso wie die wunderschöne Musik wirkt auch die Zeremonie niemals aufdringlich. Immer leichter wird der Tanz der Derwische. Kein Schritt auf dem Boden ist zu hören, fast könnte man meinen, wie eine Feder würden sie bald in den Abendhimmel entschwinden, auf dem Weg ins Universum.






„Die Sema-Zeremonie repräsentiert die spirituelle Reise des Menschen. Er überschreitet die Grenzen seines Ichs, begegnet der Wahrheit und gelangt zur Vollkommenheit. Dann kehrt er zurück als jemand, der Reife und Ganzheit gefunden hat – fähig zu lieben und der ganzen Schöpfung mit all ihren Geschöpfen zu dienen, ohne zwischen Glauben, Klasse oder Rasse zu unterscheiden.“ aus: fanafillah.ch

Erst viel später, als wir wieder zurück in Deutschland sind, fällt mir ein, an was mich diese Leichtigkeit im Tanz der Derwische erinnert. Als Kinder haben wir uns mit der besten Freundin die Hände über Kreuz gereicht und uns voller Vertrauen zurückgelehnt, nur gehalten durch das Gegengewicht der Freundin, und so haben wir uns gedreht, den Kopf nach hinten, die Augen ins Himmelsblau gerichtet. Immer wieder und wieder, und immer schneller, bis uns so wunderbar-schwindlig wurde, dass wir uns auf die Wiese fallen ließen. Ach, wie schön sie war, diese vertrauensvolle Sorglosigkeit der Kindheit! Daran erinnert mich der meditative Tanz der Derwische.

Als die Zeremonie endet und die Derwische sich zurückziehen, packen auch die Musiker langsam ihre Instrumente ein, bleiben aber noch eine ganze Weile im Restaurant an einem Tisch sitzen.
Die klangvolle Musik, die schöne, weiche Sprache und die Leichtigkeit der Bewegungen werden mir wie ein wohliger Traum in Erinnerung bleiben.

***

Bald nach dem Ende der Zeremonie setzt türkische Live-Musik ein. Ein ganz anderer Rhythmus, eine ganz andere Sprache. Die Instrumente des Trios sind Violine, Tambour und Kanun. Die Musiker gehen von Tisch zu Tisch und spielen bekannte Lieder. Auch Wünsche werden entgegen genommen.
Alex möchte das alte Lied Izmirin Kavakları (Die Pappeln von Izmir) hören, das die Griechen in Kleinasien früher so gerne gesungen haben. Erst das Erstaunen der Musiker: Wie kann ein Grieche ein solches Lied kennen? Und dann die Ahnung: Er hat vielleicht kleinasiatische Wurzeln. Alex kann es sich nicht verkneifen und singt mit. Er übertönt alle, man hat ihn mit Sicherheit bis zum Topkapı-Palast gehört! Die Musiker haben ihren Spaß und Alex auch.

İzmirin kavakları - hier in verschiedenen türkischen und griechischen Versionen.
Ein Übersetzungsversuch:
İzmirin kavakları
Dökülür yaprakları
Bize de derler çakıcı
Yar fidan boylum
Yakarız konakları

Selvim senden uzun yok
Yaprağında üzüm yok
Gamalıda zeybek vuruldu
Yar fidan boylum
Çakıcıya sözüm yok
Das Laub der Pappeln von Izmir
fällt herab
Man nennt uns Palikari,
mein Spross,
wir brennen die Residenzen nieder.

Meine Zypresse, niemand ist größer als du.
Aus deinem Laub wächst keine Traube.
In Kamali wurde ein Zeibek erschossen,
mein Spross,
ich habe keine Worte für den Palikari

Schließlich ziehen die Musiker weiter zum nächsten Tisch (obwohl der Kanun-Spieler gerne noch weitergesungen hätte) und verlassen irgendwann die Terrasse, um unten im Restaurant ihren Tee zu trinken. Die Kellner summen das Lied jedoch noch lange nach.
Als wir an dem Trio vorbei das Lokal später verlassen, schnappen sie sich ihre Instrumente und stimmen ein anderes altes türkisches Lied an, das uns noch eine Weile immer leiser werdend begleitet.

***

Zum Ausklang des erlebnisreichen Tages schlendern wir zu "unserer" Agia Sofía.


Ein kleiner Spaziergang durch das Hippodrom führt uns vor die ebenfalls angestrahlte Blaue Moschee. Auch jetzt, so spät am Abend, gibt es immer noch Besucher oder einfach Gläubige, die ihr Gebet hier verrichtet haben.


Hinter der Moschee gelangen wir in eine Gasse bergab in Richtung Bosporus/Goldenes Horn.

***

So langsam fangen die Füße an zu brennen. Deshalb schlagen wir dann doch den Weg in Richtung unseres Hotels ein und lassen uns, noch im touristischen Viertel, auf einen Absacker in einem winzigen Lokal draußen auf einer Bank mit dicken Polstern nieder. Automatisch finden wir uns in einer halbliegenden Position wieder, da die Rückenlehne der Bank nach hinten geneigt ist.
Am Nachbartisch sitzt ein junges, englischsprachiges Paar, er raucht Wasserpfeife. Der Kellner, ein Junge aus Anatolien, ist für das Servieren der Getränke und das Anrauchen der Pfeifen zuständig. Es sei sehr gesundheitsschädlich, erklärt er uns, noch schlimmer als das Zigarettenrauchen. Eigentlich rauche er auch gar nicht, doch das hier sei sein Job. Er arbeite ausschließlich auf Provisionsbasis, zehn Prozent der Einnahmen gehörten ihm.
Die Pfeife des Touristen ist ausgegangen, der Junge raucht sie wieder an. Dabei stößt er Rauchwolken wie aus einem Industrieschlot in den Himmel. Ich will nicht wissen, wie seine Lunge jetzt schon aussieht!
Nach einem netten, längeren Plausch latschen wir die zwei Kilometer zurück zum Hotel, wo sich die anderen Gäste aufgrund der weit fortgeschrittenen Stunde schon zurückgezogen haben.


Topkapı-Palast



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