Letzter Tag in Thérma



Sobald die Sonne aufgegangen ist, steigt die Temperatur sprunghaft an. Auch heute sollen es um die 40 Grad werden. Für kurze Zeit liegt zu dieser Stunde der Eingang zu unserem Zimmer außerhalb des Schattens, sodass wir beschließen, zum Frühstück Tisch und Stühle nach vorne unter die Ziersträucher zu rücken, mit direktem Blick auf die Straße. Heute geht es ans Resteverzehren. Insbesondere die Melonen wollen gegessen werden bzw. einen neuen Abnehmer finden.

Es ist so urgemütlich, wie wir da sitzen und schlemmen, dass wir gar keine Lust haben, uns auch nur einen Millimeter von hier weg zu bewegen. Also richten wir uns für die nächsten Stunden häuslich ein, während wir in Erfahrung bringen, was unsere Nachbarn für diesen Tag so vorhaben.

Die Sänger aus Kavála reisen heute wieder nach Hause. Neben Koffern und Taschen wird auch ein großes Paket mit diversen Kochutensilien nach vorne geschleppt. Aufregung steht in ihren Gesichtern geschrieben, Reisefieber. Zunächst muss die Strecke nach Kamariótissa bewältigt werden, wozu sich eine Nachbarin aus unserer Etage, die aus der Nähe von Komotiní kommt, bereit erklärt hat. Doch bis zur Abfahrt ist es noch etwas hin. Es beginnt ein Auf und Ab: Noch mal zurück ins Zimmer, wieder nach vorne, wieder zurück in die Küche und sich versichern, dass man auch alles eingepackt hat, zur Vorsicht doch noch einmal ins Zimmer... Endlich steht der PKW bereit und wird beladen. Keine Note kommt über die Lippen der beiden sonst so sangesfreudigen Menschen, wahrscheinlich entspannt man sich erst wieder, wenn man sich seinen Platz auf der Fähre gesichert hat.
Nach allen Seiten werden Hände geschüttelt, kaló taxídi (gute Reise), kaló chimóna (guten Winter) wünscht man sich auch hier bereits im Hochsommer. Der PKW setzt sich in Bewegung, ein letzter Gruß, und schon sind sie aus unserem Blickfeld verschwunden.

Chrissoúlla, unsere Wirtin, steht in den Startlöchern, um die Betten abzuziehen und das Zimmer zu reinigen, denn die neuen Gäste sind bereits angekommen.
Noch viele andere Touristen werden im Laufe des Tages nach einem freien Zimmer fragen, viele, die – so wie wir zu Beginn unseres Aufenthaltes – bis zum Abend leer ausgehen werden und improvisieren müssen. Heute lachen wir darüber und freuen uns, dass wir hier gelandet sind und so die Chance hatten, den restlichen Urlaub entspannt genießen zu können.
Die folgenden Stunden verbringen wir damit, uns mit unseren Nachbarn zu unterhalten, ihren Erlebnissen zu lauschen, Touristen beim Auf- und Abflanieren zu beobachten. Auch die eine ältere Dame kommt wieder im Bademantel und mit dick vermummtem Kopf nach ihrem obligatorischen vormittäglichen Schwefelbad zurück in ihr Zimmer gehumpelt.

Nach einem weiteren Kaffee beginnen wir unsere Abschiedstour durch Thérma. Sie beginnt beim Badehaus, das wir aber links liegen lassen. Stattdessen gehen wir über den Schotterweg rechts daneben in der kaum erträglichen Hitze zu den Open-Air-Becken.


Zusammen mit einem Einheimischen hocken wir auf der Brettereinfassung und hängen die Beine ein letztes Mal in die trübe Brühe, um nach kurzer Zeit wieder einmal festzustellen, wie leicht sie sich anfühlen, genießen nebenbei die tolle Sicht den schwefeligen Hügel hinunter bis zum Meer.

Nach einer Weile ziehen wir langsam wieder in Richtung Dorf, vorbei am Café, aus dem schauriger Heavy-Metal-Sound ertönt, und wollen die letzte Gelegenheit nutzen, um diese DVD mit den attraktiven Samothráki-Aufnahmen, zu erstehen, die jeden Abend über den Plasmabildschirm vor der Souvláki-Bude flimmert.

So einige Male haben wir hier in der Laube vor der Grillbude auf einen Absacker gesessen und uns von den Bildern verzaubern lassen, die größtenteils aus den Gebieten der Insel stammen, die nur schwer zugänglich sind. Besonders die Aufnahmen von Quellen, Wasserfälle, Becken und Flüssen, während der verschiedenen Jahreszeiten gefilmt, aber auch Aufnahmen von Menschen, Tieren und Pflanzen, unterlegt mit verschiedenartiger Musik (Pink Floyd über Country bis Klassik) ließen fast jeden, der hier vorbeikam, innehalten und teilweise auch länger verweilen.
Die 20 Euro sind sehr gut angelegt, denn – zurück in Deutschland – lässt es sich bei dieser Bild-Musik-Komposition zwei Stunden lang besonders schön träumen. Auf meine Frage, wer den tollen Film gedreht hat, entgegnet der Inhaber der Grillstube und offensichtlicher Fan von Stélios Kazantzídis (wie die vielen Fotos im Geschäft belegen) mit einem schüchternen, ganz bescheidenen, fast schon verlegenen Lächeln, dass er selbst die Aufnahmen gemacht habe. Ich kann nicht umhin, ihm meine Begeisterung mitzuteilen und beglückwünsche ihn zu seinem Werk.

Nur wenige Meter weiter kaufen wir ein letztes Mal im örtlichen Minimarkt ein, in dem permanent Musik läuft und dessen junger Besitzer?/Angestellter? über einen gesunden Humor verfügt. Ich brauche unbedingt noch griechischen Nescafé, um mir auch in Deutschland leckeren Frappé zuzubereiten. Der deutsche schäumt einfach nicht richtig, liegt wohl an der Konsistenz. Die letzte große Dose aus dem Regal geht in meinen Besitz über.

In unserem Zimmer schnappen wir uns die Handtücher und machen uns zu einem letzten Spaziergang zu den Wáthres auf. Bei fast schon stickigen 40 Grad ächzen und schwitzen wir uns den Weg hinauf und tauchen in den Wald ein. Sogleich wird es merklich kühler und angenehmer, diese Bäume sind ein Segen für uns Menschen. Jetzt, am Spätnachmittag, kommen uns viele Becken-Besucher schon wieder entgegen, sie haben genug für heute. Wir rasten an einer Stelle knapp oberhalb des ersten Beckens, mit Blick auf diese Wassersenke, die nur watend oder schwimmend durchquert werden kann. Füße und Beine, immer noch leicht nach dem Schwefelbad „duftend“, kühlen im Wasser schnell ab und sorgen für eine angenehme Ganzkörpertemperatur.


Auf einem großen Steinbrocken, mitten im Bach sitzend, beobachten wir einen großgewachsenen Rastamann, der sich ein paar Meter oberhalb des ersten Beckens auf einem Felsvorsprung postiert hat und angestrengt hinunter ins Wasser blickt. So steht er eine ganze Weile da, voll konzentriert. Mit einem Mal spannen sich seine Muskeln, er setzt an und stürzt sich hinunter, mitten hinein in das winzige Wasserbecken. Welche Herausforderung des Schicksals – eine Fehleinschätzung, eine Turbulenz und er wäre auf einem Stein aufgeschlagen. Purer Wahnsinn! Der Schreck sitzt uns noch einige Minuten in den Gliedern - für so etwas sind wir wahrscheinlich einfach zu alt.

Nach einer Weile kommt ein griechischer Wandersmann in den mittleren Jahren mit Rucksack und Turnschuhen von oben herab, direkt zu uns. Als wir ihm die beste Stelle zum Überqueren des Wasserlaufs zeigen wollen, lacht er und meint, er wüsste schon. Das hier sei ganz leicht.
Aus Athen komme er und sei Vorstandsmitglied im Wanderverein Athen (P.O.A.). Heute ist er schon in aller Früh aufgebrochen und bis zur Quelle geklettert, wollte die Bedingungen für eine Wanderung mit einer Gruppe sondieren, meint jedoch, selbst für geübte Wanderer sei das nicht zu machen, viel zu gefährlich, weil nichts gesichert ist und die Steine stellenweise wahnsinnig glatt sind. Ein falscher Tritt... – bis zum dritten Becken sei der Weg OK, man solle aber trotzdem aufpassen.

Noch heute wolle er sich mit einem Vertreter des samothrákischen Wandervereins treffen, um mit ihm gewisse Vorschläge zu erörtern. Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits Handläufe, die in den Felsen gesprengte Pfade absichern, um den Berg zu besteigen, Tausende, die sich hierher bemühen, um die Naturschönheit zu bestaunen oder sich einfach nur körperlich zu betätigen – ein samothrákisches „Samariá“, mit dem sich Geld verdienen lässt – auf Kosten der Tiere, denen die Abgeschiedenheit bisher noch einen gewissen Schutz bietet und auch auf Kosten unseres Wohlempfindens in naturbelassener Wildnis.

Den Lauf der Dinge halten wir nicht auf, doch wer weiß, ob man die Insel in den bisher unzugänglichen Teilen tatsächlich erschließen möchte. Auch ich wäre neugierig, einmal dort hinauf zu steigen, doch meine Vorsicht lässt mich Abstand nehmen, so geübt bin ich einfach nicht, und begnüge mich mit den unteren Becken, dem Plätschern des Wassers, den geschliffenen Steinen, der kühlen Frische, die man auch hier genießen kann, und teile diese genüsslich mit den jetzt am frühen Abend nur noch wenigen anderen Besuchern. Manchmal ist es nicht so wichtig, unbedingt leibhaftig irgendwo gewesen zu sein, um sich inspirieren zu lassen - finde ich.

Als der Himmel sich im Abendrot zu verfärben beginnt, packen wir unsere Sachen, prägen uns Geräusche, Formen und Farben ein, genießen ein letztes Mal die Ruhe und Frische des Ortes.
Solche Plätze, wie die wasserreichen Berghänge Samothrákis, haben eine erholende und entspannende Wirkung. Sauberes Meerwasser, heilendes Schwefelwasser und Süßwasser allerbester Trinkqualität sorgen dafür, dass man sich schon nach wenigen Tagen an Körper, Geist und Seele gereinigt fühlt. Auch jetzt, im August, wo es wesentlich mehr Besucher als freie Zimmer in Thérma gibt, können die vielen Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen diesen natürlichen Plätzen nicht ihren Wert nehmen. Für jeden und jede gibt es Erlebnisse und Orte. Keine Frage: Es ist der Wasserreichtum, der Samothráki sein einmaliges Flair gibt.



Auf unserem Rückweg lassen wir uns Zeit, bestaunen noch einmal die Größe und Wuchsformen der alten Baumriesen, berühren ein letztes Mal die knorrigen Stämme, um letztendlich wieder zu unserer Unterkunft zurückzukehren.

Vor dem Abendessen werden wir alles, was nicht mehr gebraucht wird, in die Koffer packen, obwohl wir gerade dazu überhaupt keine Lust verspüren. Beide sind wir der Meinung, dass wir ruhig noch eine Woche dranhängen könnten. Keine Chance, unsere Urlaubszeit läuft erbarmungslos ab, morgen treten wir die Heimreise an.

Ein letztes leckeres Ziegenmahl, begleitet von anderen kulinarischen Leckereien tröstet uns ein wenig über die traurigen Abschiedsgedanken hinweg. Der letzte Abend auf dem Kanapee mit unseren Nachbarn, noch ein letztes Bier, dann möchten wir uns für die morgige Reise ausruhen.


Nach Kavála