Von Thessaloníki nach Fanári



Mit wärmenden Sonnenstrahlen und einem erneut gediegenen Frühstück am Hotelbüffet, beginnen wir erlebnishungrig unseren Tag. Bewusst haben wir uns gegen den Bus und für die Zugfahrt mit dem Riesenumweg bis hoch zum Kerkínisee für die West-Ost-Durchquerung Nordgriechenlands entschieden. Ca. vier Stunden soll die Fahrt dauern, nichts im Vergleich zu den alten Zuckelbähnchen, für die man früher einen ganzen Reisetag einplanen musste.

Eine Platzkarte im voll besetzten Nichtraucher-Intercity bietet uns auf den tiefgelegten Sitzen eine fantastische Sicht durch große Panoramafenster. Um uns herum sitzen fast ausschließlich ältere griechische Herrschaften. Nur zwei aufgebrezelten jüngere Madames tauschen und rochieren solange, bis sie einen ihnen zumutbaren Platz gefunden haben.

Die Strecke führt hinter Thessaloníki erst nach Norden zum Doïranis-See. Linkerhand, begleitet vom Kerkínigebirge, verlaufen die Gleise weiter zum gleichnamigen See, einem Vogelparadies, das einen Besuch auf jeden Fall lohnen wird. Sein Abfluss, der Strimónas-Fluss mit seinen Sumpfgebieten an den Ufern, ist für unser Auge leider nicht sichtbar, zu weit entfernt.

In den Provinzorten, wie Siderókastro und Sérres steigen wenige Reisende ein und aus. Von unserem Platz ganz hinten im Großraumabteil fällt uns beim Losfahren an der letzten Station auf, dass die Tür nach draußen nicht geschlossen ist. Der Zug hat bereits ordentlich Fahrt aufgenommen. In eben diesem Augenblick ist es dem Zugführer auch aufgefallen. Hat er möglicherweise auf Autopilot geschaltet? Mit erschrockenem Gesicht stürzt er durch unser Abteil und wirft sich todesmutig auf die offene Außentür, um diese bei voller Fahrt mit einem lautem Knall zu schließen.

Die beiden Ladies, die sich so auffallend benehmen, sind mit ihren Extravaganzen so sehr beschäftigt, dass sie später auch prompt ihre Haltestation verpassen. Sie lassen den Zug extra noch mal anhalten, damit auch sie mit großem Getöse auszusteigen können. Lächelndes Kopfschütteln bei allen Anwesenden um uns herum.

Hinter Dráma wird in einiger Entfernung linkerhand das Rodópengebirge („Rosenlochgebirge“) sichtbar, eine natürliche Grenze zu Bulgarien. Die Landschaft ist abwechslungsreich grün, fruchtbare Ebenen mit Mais- und Baumwollfeldern. Große Räder, auf die schwarze Bewässerungsschläuche aufgewickelt sind, stehen überall an den Ackerrainen. Riesige Landmaschinen warten auf ihren Einsatz. Wie wir später erfahren, kommen sie aus Deutschland und den USA. Die mühselige Baumwollernte in gebückter Haltung kann jetzt wesentlich bequemer und schneller durchgeführt werden. Es würde mich nicht wundern, wenn die Landmaschinen kooperativ genutzt würden, denn sie sind sicherlich sehr teuer und für einen einfachen Bauern schier unerschwinglich.
Mais, Sonnenblumen und Tabak wechseln mit der Baumwolle ab in dieser vergleichsweise regenreichen Gegend Griechenlands. Insbesondere Baumwolle, aber auch Reis, dessen (wenige) Anbaufelder wir auf der Rückfahrt sehen können, braucht sehr viel Wasser, das durch die vielen Bäche und Flüsse, auch wenn viele jetzt im August ausgetrocknet sind, gesichert ist.
Selbst der Néstos, der breite, schlammig-braunfarbene, aus Bulgarien kommende Fluss, an dessen Ufer die Zuglinie vorbeiführt, führt nur wenig Wasser, gut zu erkennen an seinen breiten, trockenen Rändern. Leider versperren etliche Tunnels, Betonpfeiler, Bäume und Sträucher eine gute Sicht auf den Fluss, der sich durch ein malerisches Tal windet.


Nach Süden hin erkennen wir die weite, fruchtbare Ebene, die der Néstos im weiteren Verlauf durchschneidet, um ins Thrakische Meer zu münden.

Wir sind bereits in Westthrakien angekommen. Hier zeugen bauliche Gegebenheiten von den Veränderungen der Bevölkerungslandschaft. Es gibt Dörfer mit Minaretten für die muslimischen Einwohner, andere mit den Kirchen der orthodoxen Dorfbevölkerung. Es gibt auch Dörfer, die beide Symbole tragen, nur wenige Meter voneinander getrennt, mit einer gemischten Einwohnerschaft, die in friedlicher Koexistenz miteinander leben.

Würde man die Gemeinschaft der unterschiedlichen Völker, die hier zusammen lebt, nur in Christen und Muslime unterteilen, wäre dies viel zu kurz gegriffen, um einen realistischen Eindruck zu erhalten. Hier leben Griechen (z.B. Thraker), oder auch solche, die nach dem Exodos der zwanziger Jahre aus Kleinasien vertrieben wurden bzw. im Rahmen des "Bevölkerungsaustausches" ab 1923 ihre kleinasiatische Heimat per offiziellem Abkommen (Vertrag von Lausanne vom 24.07.1923 und Konvention betr. Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerung vom 30.01.1923) verlassen mussten. Dazu gehören auch Pontier, die von der Südküste des Schwarzen Meers her einwanderten, nachdem - wie der Historiker, Prof. Konstantínos Fotiádis, in einer offiziellen Studie veröffentlicht hat - mehr als 300.000 von ihnen vertrieben und getötet worden waren.

Es gibt auch Dörfer, in denen ausschließlich Türken leben. Es sind ethnische Türken mit griechischem Pass, die ebenso vom Bevölkerungsaustausch der 20er Jahre ausgenommen wurden, wie die Griechen Konstantinopels, und der beiden Inseln Imbros und Tenedos, die jedoch keinen Minderheitenstatus als türkische Ethnie haben, sondern als Moslems.
In anderen Dörfern leben Arvaniten, die vor langer Zeit aus Südalbanien eingewandert sind, neben albanischen und bulgarischen Einwandern der jüngeren Vergangenheit.
In den Bergen des Rodhópengebirges gibt es Dörfer, deren Einwohner Pomaken (vermutlich slawischer Herkunft) sind, die früher mit Holz handelten und die – so sagen Einheimische – zu den friedlichsten und ruhigsten Menschen gehören, die hier in Westthrakien ein Zuhause haben.
Es gibt auch Siedlungen mit Roma- und Sinti-Familien. Auch in Komotiní gibt es in verschiedenen Stadtteilen zwei solcher Siedlungen.

Wer tiefer in die Materie einsteigen möchte, kann sich in diese Rezension zur Anfang 2003 in Berlin durchgeführten Tagung zum Thema "Minorities in Greece – Historical Issues and New Perspectives" vertiefen.

Als Minderheit anerkannt sind - wie erwähnt - lediglich Moslems, zu denen insbesondere Türken, Pomaken und Roma-Familien gehören, deren Rechte sich aus den §§ 37 - 45 des Lausanner Vertrages ableiten. Daraus folgt, dass in Griechenland keine ethnischen Minderheiten als solche anerkannt sind, die dadurch einen Anspruch auf den Erhalt von Sprache und kulturellen Eigenheiten hätten. Dies betrifft insbesondere christliche Minderheiten, die - wenn sie sich berufliche oder gesellschaftliche Chancen erarbeiten möchten - nur die Möglichkeit haben, sich als Griechen zu identifizieren. Assimilation und damit der Verlust der kulturellen und sprachlichen Identität sind in der Regel die Folge.

Diese Problematik betrifft natürlich nicht nur Westthrakien und Griechenland. Wie würde eine gesellschaftliche Wirklichkeit aussehen, in der verschiedenen Bevölkerungsgruppen einfach friedlich nebeneinander leben und nicht unbedingt miteinander?

Westthrakien – ein Modell für das multikulturelle Europa oder gar für eine bunte Welt der Vielfalt, in der man die Verschiedenartigkeit der Menschen und Kulturen nicht als fremd und daher angsteinflößend wahrnimmt, sondern als Bereicherung empfindet und voneinander lernt?

Die Provinz Rhodhópi wirbt sogar in einem Prospekt dafür:


„Mensch und Zeit
In Rodhópi leben Sie in Frieden mit der Zeit, weil Sie im Frieden mit den Menschen sind. Ihre multikulturelle Natur, die alltägliche Koexistenz von Christen und Moslems, die ein Modell einer idealen vielgesichtigen Gesellschaft darstellen könnte, gibt der Gegend eine spezielle, persönliche Farbe, wenn der Klang der Kirchenglocke und die Imams zum Gebet rufen; das tiefe Erbe einer gemischten Tradition und der westliche Lebensstil treffen hier täglich aufeinander. Im Reichtum der multikulturellen Natur der Gegend teilen, koexistieren, kooperieren und feiern die Menschen zusammen...“

...Frieden...nur ein Traum?


Langsam nähern wir uns Xánthi. Man teilt uns mit, dass wir vom Zug in einen Bus umsteigen müssen, Schienenersatzverkehr, da die Gleise durch die Sturzbäche der letzten Tage gefährlich unterspült worden seien. Mit nur wenig Verspätung kommen wir schließlich in Komotiní an.
Es ist heiß und schwül, als wir den klimatisierten Bus verlassen. Entgegen unserem Vorhaben, erst einmal gemütlich einen Kaffee in der Stadt zu trinken, entschließen wir uns daher, gleich zu unserem eigentlichen Ziel, dem etwa 30 km entfernt liegenden Hafenort Fanári, zu fahren und chartern kurzerhand ein Taxi. Fanári liegt etwa auf halber Stecke zwischen Xánthi und Komotiní, in der Nähe des bekannteren Ortes Pórto Lágos am Vistonída-See.

Unsere Unterkunft hatten wir als einzige auf unserer Reise telefonisch von Deutschland aus vorbestellt. Das Zimmer sowie das gesamte Ambiente übertreffen unsere Erwartungen bei weitem.


Ein ganz klein wenig abseits des abendlichen Rummels wohnen wir privat bei einem Lehrerehepaar in einer kleinen Pension. Unserem ebenerdigen Zimmer ist eine große, überdachte Terrasse vorgebaut, die man sich nur noch mit einer anderen Partei teilen müsste. Allerdings steht das Nachbarzimmer zur Zeit leer. Weitere Zimmer gibt es noch im ersten Stock. Wir blicken von der Terrasse aus auf einen üppig begrünten Innenhof mit Grill, den wir ebenfalls nutzen dürfen. Unsere Wirtsleute sind herzlich, jederzeit ansprechbar und erfüllen uns jeden Wunsch.
Unser kühles Zimmer – ein Traum. Geschmackvoll eingerichtet, eine große Nische hinter dem Bett, gute Matratzen, eine gepflegte Dusche mit Duschvorhang, Fernseher, Kühlschrank und genügend Ablagefläche, alles zusammen für 30 € die Nacht. Hier lässt es sich gut leben, wir sind auf Anhieb begeistert.

In Fanári begegnen wir ausschließlich griechischen Touristen. Der Ort ist gewachsen, d.h. außerhalb der Saison wohnen die Menschen hier wie eh und je, man hat sich jedoch ein wenig touristisch orientiert, was sich in einigen – direkt am Wasser gelegenen – Tavernen und wenigen Geschäften mit touristischen Artikeln äußert. Ein Minimarkt versorgt auch die Einheimischen mit dem Wichtigsten. In einer Parallelstraße zum Hafen gibt’s in einer Bäckerei oberleckere, warme, Bougátsa-ähnliche Spinatkringel in Blätterteig. Die Unterkünfte verströmen einen gemütlichen Charakter. Auf einem Campingplatz, der am Ortsrand direkt an einem Strandabschnitt liegt, sind auch kleine Appartements gebaut worden, die so heiß begehrt sind, so dass ihre Nutzung jährlich immer wieder auf`s Neue versteigert wird.

Von jeher waren die Menschen hier in Fanári Fischer. Auch heute noch gehen viele diesem Handwerk nach, ganze Familien leben davon. Ein alter Mann, der mit uns auf einer Bank im Hafen eine Zigarette raucht, erzählt, dass er selbst früher jeden Tag hinausgefahren sei; heute sind seine beiden Söhne Fischer, jeder mit eigenem Boot, er selbst sei zu alt dafür. Doch es treibt ihn immer noch allabendlich hierher, wenn die Schiffe hinaustuckern.


Der Hafen ist in den letzten Jahren erheblich vergrößert worden und bietet so auch zahlreichen Jachten einen guten Schutz vor Wind und Sturm. Die Besitzer der Schiffe mögen jedoch nicht alle mit ihren fahrbaren Untersätzen so vertraut sein. So kann das „Einparken“ schon mal zum halbstündigen Spektakel werden. Ganz im Gegensatz zu den Fischern, die mit wenigen geübten Griffen die Barken quer durch das Hafenbecken lenken, um draußen ihrer schweren Arbeit nachzugehen.

Wir schlendern weiter durch den Hafen, bewundern weitere coole, teure Boote, träumen mit den größeren Fischerkuttern, atmen Seeluft ein. Das Wasser ist überall sehr sauber. Unzählige Krebschen krabbeln unter der Wasseroberfläche auf den Steinen und an den Ufermauern entlang.

Am Ortsrand ist kräftig gebaut worden. Alles sieht sehr adrett aus. Kein Wunder, wenn dieser kleine Ort auch Touristen anzieht. Mir gefällt es sehr gut, einmal mit griechischen Touristen Urlaub zu machen. Da hier nur wenig junge Leute sind, gibt es auch keine Disko oder sonstigen lauten Lokale. Nur eine Taverne leiert immer wieder dieselben englischen 80er-Jahre-Hits.

Unsere Ortserkundung hat hungrig gemacht. Wir möchten Fisch essen, diesmal aber einen größeren am Stück. Im Touristikó Períptero, einer Fischtaverne auf einem Hügel, in Richtung Campingplatz, die so gar nichts von einem Kiosk ("Períptero") hat, und die es schon seit Urzeiten gibt, speisen wir eine vorzügliche Brasse sowie einen Salz-Süßwasserfisch, der oft in Flussmündungen vorkommt und irgendwie schlammig schmeckt.
Zusammen mit diesem kulinarischen Hochgenuss versetzt uns der Sonnenuntergang in eine romantische Stimmung. Zufrieden und heiter trollen wir uns am späten Abend „nach Hause“ und finden einen erholsamen, tiefen Schlaf.



Baden in Fanári